Von Christian
„Die Bibel ist von Gott inspiriert.“ Was ist damit eigentlich genau gemeint? Bezieht es sich zum Beispiel auf 2. Timotheus 3:16? Wobei, dann wäre der zitierte Text schon entschieden verändert worden, denn dort wird nicht von ‚der Bibel‘ gesprochen. In Teil 2 hatten wir über Texte wie 2. Timotheus 3:16 schon gesprochen: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben“. Und sowohl in Teil 2 wie auch Teil 8 sprachen wir über die Fakten, die zeigen, dass die Autoren der Autographen des Neuen Testaments mit ‚Schrift‘ das sogenannte Alte Testament meinten. Im Laufe der Zeit wurden die Schriften des Neuen Testaments von Christen aber immer höher geschätzt und heute denken viele auch über das Neue Testament genauso. Und so kommt es, dass viele beim Thema Inspiration keinen Unterschied zwischen altem und neuem Testament machen.
Konservative evangelikale Theologen haben zum Beispiel in der sogenannten Chicago-Erklärung (Wikipedia) ihre Überzeugung so formuliert:
“Eine kurze Erklärung: 4. Da die Heilige Schrift vollständig und wortwörtlich von Gott gegeben ist, ist sie in all ihren Lehren ohne Irrtum oder Fehler, nicht weniger in dem, was sie über Gottes Taten in der Schöpfung, über die Ereignisse der Weltgeschichte und über ihren eigenen literarischen Ursprung unter Gott aussagt, als in ihrem Zeugnis von Gottes rettender Gnade im Leben des Einzelnen.”
“Artikel VI: Wir bekennen, dass die gesamte Heilige Schrift und alle ihre Teile, bis hin zu den Worten des Originals, durch göttliche Eingebung gegeben wurden.”
Chicago-Erklärung, 1978
Das Problem mit solchen Behauptungen ist, dass sie immer noch zu generell sind und viele Annahmen implizit enthalten.
Ein Problem mit der ersten Satz dieser Erklärung ist zum Beispiel, was mit ‚die Heilige Schrift‘ gemeint ist. Ist damit der Text gemeint, den du in einer deiner deutschen Übersetzungen liest? Oder die Autographen (dort Original genannt), was wir dem zweiten Satz entnehmen können? Aber welche Aussagekraft bleibt denn dann übrig, wenn wir uns noch einmal das Diagramm aus dem ersten Teil anschauen?

Was müsste denn noch zutreffen, damit diese Vorstellung von Inspiration für uns nützlich ist?
Ob der Text in den Autographen bis in die einzelnen Wörter von Gott inspiriert und fehlerfrei ist, können wie nicht überprüfen, weil (a) kein Autograph erhalten ist und (b) wir dazu dessen Text mit Gottes Gedanken vergleichen müssten.
Dazu müsste Gott auch jeden verfälschenden menschlichen Einfluß des Schreibers bzw. des Diktierenden verhindert haben.
Aber das nützt uns noch gar nichts, weil wir nur eine Übersetzung eines Textes in eine völlig andere Sprache und Kultur haben, der aus sehr vielen, ziemlich unterschiedlichen Manuskripten wiedergestellt wurde, welche die Kirche in den Kanon aufgenommen hatte und der immer wieder kopiert wurde.
Damit diese absolute Aussage über eine wörtliche Inspiration für uns von Wert ist, müsste Gott also ganz genauso alle anderen Schritte kontrolliert haben.
Aber es gab viele unabsichtliche sowie absichtliche Änderungen am Text in den Manuskripten. Und verschiedene Übersetzungen verwenden jeweils verschiedene Wörter – sind diese dann auch alle von Gott wörtlich so gewählt worden?
Hat Jesus zum Beispiel dies genau so in der Bergpredigt gesagt?
Glückselig sind die geistlich Armen, denn ihrer ist das Reich der Himmel!
Matthäus 5:3 Schlachter 2000
Also diese deutschen Worte natürlich nicht. Übrigens verwendet diese Übersetzung ganz andere Worte:
Wie glücklich sind die, die begreifen, wie arm sie vor Gott sind! / Sie gehören dem Himmelreich an!
Matthäus 5:3 Neue Evangelistische Übersetzung
Da er weder diese noch die anderen Worte in Deutsch gesagt hat, wäre das höchstens eine inspirierte Übersetzung. Aber diese Wörter vielleicht:
Μακάριοι οἱ πτωχοὶ τῷ πνεύματι, Ὅτι αὐτῶν ἐστιν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν.
Matthäus 5:3 Berean Greek New Testament 2016
Aber möglicherweise sind nicht einmal das inspirierte Worte, weil das Evangelium Matthäus gemäß einigen Kirchenvätern und auch Gelehrten in einem hebräischen Dialekt, genauer wohl Aramäisch geschrieben worden ist.
Und was ist mit dieser Passage?
Der [Gesetzeslehrer] sagte: Derjenige, der ihm Barmherzigkeit erwiesen hat. Da sagte Jesus zu ihm: Geh auch du und handle ebenso.
Lukas 10:37 Züricher
Wenn wir eine wörtliche Inspiration vorliegen haben, hat der Gesetzeslehrer oder Jesus das genau so gesagt? In Griechisch! Ob der jüdische Gesetzeslehrer mit Jesus wohl Griechisch oder Aramäisch gesprochen hat? Ok, die wörtliche Inspiration bezieht sich also wohl nicht auf die in Wirklichkeit gesprochenen Worte, sondern höchstens auf die Form des Zitates. Wollte Gott damit sicherstellen, dass wenigstens die Darstellung ganz genau so ist, wie er das wollte, auch wenn es nicht genau das ist, was gesprochen worden war?
Vergleichen wir aber auch einmal diese parallelen Texte in den synoptischen Evangelien:
Da sagte Jesus: O du ungläubige und verkehrte Generation!
Ἀποκριθεὶς δὲ ὁ Ἰησοῦς εἶπεν Ὦ γενεὰ ἄπιστος καὶ διεστραμμένηDa sagte er zu ihnen: O du ungläubige Generation!
Ὁ δὲ ἀποκριθεὶς αὐτοῖς λέγει “Ὦ γενεὰ ἄπιστος,Da antwortete Jesus: O du ungläubige und verkehrte Generation!
Matthäus 17:17, Markus 9:19, Lukas 9:41 Einheitsübersetzung 2016, Berean Greek New Testament 2016
Ἀποκριθεὶς δὲ ὁ Ἰησοῦς εἶπεν “Ὦ γενεὰ ἄπιστος καὶ διεστραμμένη,
Was hat Jesus denn nun wirklich damals gesagt? Nur ungläubige Generation? Oder hat er sie auch als verkehrt bezeichnet? Die wörtliche Inspiration kann also nicht wörtlich den tatsächlichen Wortlaut wiedergegeben haben. Aber dass die wörtliche Inspiration von Gott verwendet wurde, um genau das aufzuschreiben, was anstelle des gesprochenene Wortes geschrieben werden sollte, kann ja auch nicht der Fall sein. Es gibt ja zwei verschiedene Versionen! Und das ist nur ein Beispiel, welches ein synoptischer Vergleich zu Tage fördert.
Bin ich jetzt einfach nur kleinlich und suche das sprichwörtliche Haar in der Suppe? Nein, denn die ziemlich weitgehende Aussage war ja, dass Gott „vollständig und wörtlich“ den Text inspiriert hat. Und wenn man die Latte so hoch legt, dann muss der Text auch an diesen Ansprüchen gemessen werden. Gibt es nun ein Problem im Text des Neuen Testaments oder nicht vielmehr mit dem Anspruch an den Text?
Nächstes Problem. Eine Analyse des Textes zeigt, dass verschiedene Wortschätze und Schreibstiele verwendet wurden. Aber wenn Gott die Wörter genau inspiriert hat, warum verwendet Gott dann verschiedene Schreibstiele und Wortschätze in den Texten und erzeugt den Eindruck verschiedener menschlicher Autoren? Das würde ja fast schon an Täuschung grenzen. Irreführend wäre es auf jeden Fall.
Und da wir schon bei den Evanglien sind: Ist das ein wörtlich inspirierter Bericht über das Leben und die Lehren Jesu. Nein! Es gibt ja vier im Kanon – die voneinander abweichen, insbesondere Johannes. Aber ist jeder einzelne davon wörtlich von Gott inspiriert? Das hat die Christen schon seit dem ersten Jahrhundert beschäftigt. Dazu wird es ein separates Video geben.
Und noch etwas. Wenn Gott den Text und den Kanon so genau geplant und wörtlich inspiriert hat, warum dann auf eine Weise, die eher das Gegenteil nahelegt? Ich kann mich noch gut erinnern, dass jedes ‚Bibelstudienhilfsmittel‘ der Zeugen Jehovas genau eines nicht tat: Das neue Testament von Anfang bis Ende Vers für Vers zu betrachten. Jedes solcher Lehrbücher – nicht nur die der Zeugen Jehovas – macht etwas ganz anderes: Es ordnet die Dinge thematisch an. Warum ist der vermeintlich wörtlich inspirierte Text des Neuen Testaments nicht so geschrieben? Im alten Testament sieht man doch, dass das geht: Wenn Gott sagen will, wie die Menschen gemäß seinem Bund leben sollen, was macht er? Er beginnt mit dem Wichtigsten: Er selbst. Siehe 2. Mose 34:6,7 (Exodus). Dann 10 Gebote (2. Mose 34:28), dann die Gesetze (3. Mose, Levitikus). Wer ordnet die Welt? 1. Mose (Genesis). Warum sieht sie anders aus? 1. Mose (Genesis). Warum ein Bündnis mit uns, den Israeliten? Historischer Bericht in 1. Mose (Genesis).
Mit Christus hat doch eine neue Ära begonnen. Gibt es etwas Vergleichbares? Eigentlich nicht. Oder es ist sehr, sehr kurz: Matthäus 22:37-40 „Mit diesen beiden Geboten ist alles gesagt, was das Gesetz und die Propheten wollen.“. Und was ist mit dem Rest? Leben Jesu, Geschichte der ersten Jünger Jesu, Briefe aus aktuellem Anlaß an bestimte Versammlungen. Allgemeine Darlegung des Glaubens. Und eine Offenbarung. Dass das kein thematisch geordnetes Gesetz oder Lehrbuch ist, zeigt sich schon darin, dass bei der Diskussion praktisch jeder Lehre Verse aus den verschiedensten Teilen des Neuen Testaments zusammengeführt werden müssen.
Und es gibt noch eine Schwierigkeit mit der Aussage, dass das Neue Testament von Gott wörtlich inspiriert ist mit Hilfe des heiligen Geistes Gottes. Bei Johannes hört sich das nämlich so an:
Ich [Jesus] hätte euch noch so viel zu sagen, aber ihr könnt es jetzt noch nicht tragen. Wenn dann jedoch der Geist der Wahrheit gekommen ist, wird er euch zum vollen Verständnis der Wahrheit führen. Denn er wird nicht seine eigenen Anschauungen vertreten, sondern euch nur sagen, was er ‹von mir› hören wird, und euch verkünden, was dann geschieht. Er wird meine Herrlichkeit sichtbar machen, denn was er euch verkündigt, nimmt er von mir. Alles, was der Vater hat, gehört ja auch mir. Deshalb habe ich gesagt: Was er euch verkündigen wird, hat er von mir.
Johannes 16:12-15 NEÜ
Also kommt das in Wirklichkeit von Jesus, was der Geist der Wahrheit den Jüngern später klar macht? Gar nicht von Gott? So klingt das zumindest auch in der Offenbarung, die Johannes zugeschrieben wird:
In diesem Buch enthüllt Jesus Christus, was Gott ihm für seine Diener anvertraut hat. Sie sollten wissen, was bald geschehen muss. Deshalb ließ er es durch seinen Engel seinem Diener Johannes zukommen.
Offenbarung 1:1 NEÜ
Allerdings wird hier der Geist der Wahrheit nicht erwähnt, sondern die Botschaft wird durch einen Engel überbracht. Und wie wir schon in Teil 2 – Nachtrag gesehen hatten, steht dort sogar, dass Johannes die Worte aufschreiben soll. Hat dann erst beim Aufschreiben Gottes Geist – der Geist der Wahrheit – für die wörtliche Inspiration gesorgt?
Allerdings übersetzen viele andere Johannes 16:14 wörtlicher:
Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden.
Johannes 16:14 Einheitsübersetzung 2016
Das klingt jetzt schon nicht mehr so, als ob Jesus dem heiligen Geist die Worte gibt. Womit wir wieder beim Thema wörtliche Inpiration und Übersetzung wären.
Nun, damit erkennen wir das wahre Ausmaß des Problems der wörtlichen Inspiration: Konfrontiert man diese Vorstellung mit den Fakten, muss sie immer mehr zurückgenommen werden. Dadurch ergibt sich der Eindruck, dass es nur noch weiterer Fakten bedarf, um diese Behauptung ganz zu widerlegen und damit ist das Thema Bibel für viele dann erledigt. In diesem Fall geht es vielleicht mit der Aussage los, dass die Bibel bis zu den Wörtern inspiriert und ohne Fehler ist. Wenn damit die Bibel gemeint ist, wie wir oder andere sie in der Vergangeheit hatten, dann müssten diese Texte ja auch genau kopiert worden sein. Dann kommt der Verweis auf die vielen Abweichungen in den Manuskripten. Und schon muss dieser Satz irgendwie aufgeweicht werden. Und so geht das weiter.
Wir wollen umgekehrt vorgehen, und eine Aussage erarbeiten, die von Fakten getragen und nicht so schnell geändert werden muss (die Argumente stammen zum Teil aus Michael S. Heiser The Naked Bible’s Thoughts on Inspiration, Part 1 und Folgende):
Das mit inspiriert übersetze Wort θεόπνευστος (theopneustos) kommt im Neuen Testament genau einmal in 2. Timotheus 3:16 vor. In 2. Petrus 1:21 wird übrigens ein ganz anderes Wort φερόμενοι (pheromenoi) verwendet. Was könnte inspiriert θεόπνευστος (theopneustos) bedeuten?
- θεόπνευστος (theopneustos) sagt aus, dass Gott die unmittelbare Quelle war.
Damit muss er jedes Wort diktiert oder in die Gedanken des Schreibers implementiert haben. Kein Wort darf dem Sinn des Autors entsprungen sein.
Das entspricht in etwa dem, was viele Evangelikale, wie eingangs zitiert, denken. - θεόπνευστος (theopneustos) sagt aus, dass Gott die ultimative Quelle war.
Menschen waren hingegen die unmittelbare Quelle.
Gott wählt die Menschen aus. Selten sagt er ihnen auch tatsächlich genau, was sie weitergeben sollen. Aber die Norm ist, dass die Menschen die Worte wählen – welche Rolle Gott und der heilige Geist spielen, gilt es noch zu klären.
In der Literatur werden diese drei Begriffe verwendet (siehe z.B. ERF Die Bibel als Gottes Wort):
- Die Verbalinspiration: Nicht nur die inhaltlichen Zusammenhänge und die Autoren der Bibel sind von Gott inspiriert, sondern auch die Worte selbst. Die ganze Bibel wird als vollkommenes, fehlerfreies und verbindliches Wort Gottes verstanden.
- Die Personalinspiration: Hier ist der Autor eines biblischen Buches von Gottes Geist erfüllt. Gott machte ihn dazu fähig, etwas über Gott oder den Glauben zu sagen, ohne dass alles, was er schreibt, vollkommen sein muss. Der Mensch ist inspiriert und nicht zwangsläufig der gesamte Inhalt seiner Botschaft.
- Die Realinspiration: Bei diesem Modell sind es die großen thematischen Zusammenhänge eines biblischen Buches, die inspiriert sind und nicht der Autor oder der Wortlaut. Was für den Glauben nicht zentral ist, ist auch nicht notwendigerweise von Gottes Geist inspiriert.
Das Problem mit der Verbalinspiration ist, dass wir sie zum einen gar nicht überprüfen können, weil wir die Autographen nicht kennen und auch nicht wissen, was Gott schreiben wollte. Zum anderen nützt sie uns auch gar nichts, wenn wir nicht den Text in den Sprachen der Autographen mit dem kulturellen Hintergrund der damaligen Zeit lesen und verstehen können. Sobald eine Übersetzung vorliegt, müsste ja auch die Wortwahl der Übersetzer einer Verbalinspiration unterliegen. Und was, wenn zwei Übersetzungen verschiedene Wörter gewählt haben? Sind dann beide wörtlich inspiriert? Wir sehen, dass man schon beim Übersetzen die Idee einer Verbalinspiration erweitern muss.
Die Verbalinspiration entspricht dem Gedanken einer unmittelbaren Quelle. Wohingegen Personal- und Realinspiration dem Gedanken einer ultimativen Quelle entsprechen. Gott ist die ultimative Quelle, weil er zum Beispiel:
- Die Menschen erschaffen hat.
- Es seine Idee war, uns etwas zu offenbaren.
- Personen sorgfältig ausgewählt und die Umstände genutzt oder geschaffen hat, um die Schriften zu schaffen.
Gott als ultimative Quelle erklärt auch viel besser, warum die Texte der Bibel selbst in etwa der gleichen Zeit verschiedene Vokabulare, Schreibstiele und Komplexität aufwiesen. Wenn Gott jedes Wort diktiert oder in den Geist der Autoren gelegt hätte, warum hätte er sich dann diese Umstände gemacht? Es irgendwie menschlich erscheinen lassen, wenn es doch nur seine Worte enthalten sollte?
Denken wir auch an 1. Korinther 7:12 „Den Übrigen aber sage ich, nicht der Herr: …“ (Elberfelder). Kommen die Worte danach nun von Gott oder Paulus? Und wenn es die Worte des Herrn gewesen wären, wären es dann Gottes Worte eingepflanzt in den Geist des Herrn gewesen? Das war doch gar nicht nötig, denn oft genug hat Jesus betont, wie ähnlich er seinem Vater ist. Wenn Jesus sprach, war das in völliger Harmonie mit Gottes Gedanken. Und sollte das mit Hilfe des heiligen Geistes nicht auch bei einem Paulus möglich gewesen sein, ohne ihm jedes Wort in den Sinn und die Feder zu legen. Bei seinen Vorträgen war dies doch schließlich auch nicht der Fall. Oder hat Paulus da etwas ‚Falsches‘ gesagt?
Der Gott, der so die ultimative Quelle des Textes ist, ist sehr viel größer und ‚allmächtiger‘ als einer, der als unmittelbare Quelle jedes einzelne Wort diktiert. Wort-für-Wort Diktieren kann sogar jeder von uns. Wer der Überzeugung ist, dass Gott die Entwicklung des Kanons geleitet hat, sollte kein Problem damit haben, dass er als ultimative Quelle auch die Enwicklung des Textes so geleitet hat.
Im Prinzip hat er es mit dem Prophezeien und Schreiben wohl so gemacht, wie bei der handwerklichen Arbeit mit diesen beiden:
Nun sagte Mose zu den Israeliten: “Seht, Jahwe hat Bezalel Ben-Uri, den Enkel von Hur aus dem Stamm Juda, berufen. Er hat ihn mit dem Geist Gottes erfüllt, mit Weisheit und Verstand und kunsthandwerklichem Geschick. Er kann Pläne entwerfen und danach Gegenstände aus Gold, Silber und Bronze anfertigen. Er kann Edelsteine schneiden und einfassen, er versteht sich auf Holzschnitzerei und ist in jeder künstlerischen Technik erfahren. Dazu hat Jahwe ihm und Oholiab Ben-Ahisamach aus dem Stamm Dan die Gabe geschenkt, andere zu unterweisen. Beiden hat er die Fähigkeit gegeben, jeden Entwurf eines Kunsthandwerkers, Kunststickers oder Buntwirkers ausführen zu können, ob es um blauen und roten Purpur, Karmesinstoff oder Leinen geht, um Weberei oder Stickerei. Sie können alle möglichen Entwürfe machen und sie ausführen.
2. Mose 35:30-35 Neue Evangelistische Übersetzung
Klingt das so, als ob Gott ihnen Strich für Strich und jede Handbewegung und jedes Wort in den Geist diktiert hat? Klingt eher nach einem Intelligenz- und Talentverstärker, was der Geist Gottes hier bewirkt.
Kommen wir noch einmal auf 2. Petrus 1:20,21 zurück:
Vor allem aber müsst ihr wissen, dass keine prophetische Aussage der Schrift aus einer eigenen Deutung stammt. [Entweder ist gemeint: aus einer eigenen Deutung (Erfindung) des Propheten, oder: eine eigene (eigenwillige) Deutung zulässt.] Denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil der betreffende Mensch das wollte. Diese Menschen wurden vielmehr vom Heiligen Geist gedrängt, das zu sagen, was Gott ihnen aufgetragen hatte.
2. Petrus 1:20,21 Neue Evangelistische Übersetzung
Wie müssen wir uns das vorstellen, dass Propheten „vom Heiligen Geist gedrängt φερόμενοι (pheromenoi)“ wurden. Dieses Wort enthält den Gedanken von etwas tragen, hervorbringen, voranbringen. Wenn es in Verbindung mit intelligenten Menschen verwendet wird wie in Markus 1:32; 7:32, wird dabei nie der Sinn der Person ausgeschaltet oder manipuliert, sondern einfach jemand wohin gebracht. 2. Petrus 1:21 vermittelt den Gedanken, dass Gott die Propheten zum sprechen und schreiben veranlasst hat – als ultimative Quelle – unter Verwendung ihrer eigenen Worte. Nicht dass er ihren Sinn und ihre schreiben Hände bei jedem Wort kontrolliert hat.
Denkst du immer noch, dass Gott die Schriften Wort für Wort diktiert hat? Dann musst du auch annehmen, dass er genauso diejenigen wie Roboter ferngesteuert hat, welche die Schriften überarbeitet haben. Die heiligen Schriften überarbeitet? Das kann doch nicht wahr sein! Wenn das deine Ansicht über die ‚Inspiration‘ ist, dann ist es auch ein Teil, der durch die Fakten widerlegt wird. Sogar durch den Text selbst! Hier ein paar Beispiele aus dem Alten Testament, also das, was für die Schreiber des Neuen Testaments ‚die Schriften‘ waren.
- 5. Mose 34:1-12 „So starb Mose, der Diener Jahwes, im Land Moab, wie Jahwe es gesagt hatte, und er begrub ihn dort im Tal gegenüber von Bet-Peor. Bis heute weiß niemand, wo sein Grab ist. Mose war 120 Jahre alt geworden. Sein Sehvermögen hatte nicht nachgelassen und seine Kraft war nicht geschwunden.“
Wie sollte Moses das geschrieben haben? Oder hat Gott ihn dazu gebraucht, das zu seinen Lebzeiten zu schreiben? - 1. Mose 14:14 „Als nun Abram hörte, dass sein Bruder gefangen sei, bewaffnete er seine 318 erprobten Knechte, die in seinem Haus geboren waren, und jagte jenen nach bis Dan.“
Zur Zeit Abrahams gab es weder den Stamm noch die Stadt Dan. Aber Moses schrieb das doch und kannte es! Nur sagt uns Richter 18:29, dass Moses die Stadt noch gar nicht unter diesem Namen kennen konnte: „Und sie gaben der Stadt den Namen Dan nach dem Namen ihres Vaters Dan, der dem Israel geboren worden war; früher dagegen war Lajisch der Name der Stadt.“ - „Bis auf diesen Tag“ ist oft ein Hinweis, auf eine spätere Überarbeitung des Textes. Zum Beispiel in 5. Mose 10:8 „ In jener Zeit sonderte der HERR den Stamm Levi dazu aus, die Lade des Bundes des HERRN zu tragen, vor dem HERRN zu stehen, um seinen Dienst zu verrichten und in seinem Namen zu segnen, bis auf diesen Tag.“
- Hesekiel 1:1-3 „Und es geschah im dreißigsten Jahr, im vierten ⟨Monat⟩, am Fünften des Monats; als ich mitten unter den Weggeführten am Fluss Kebar war, da öffnete sich der Himmel, und ich sah Gotteserscheinungen. Am Fünften des Monats – das ist das fünfte Jahr ⟨nach⟩ der Wegführung des Königs Jojachin – geschah das Wort des HERRN ausdrücklich zu Hesekiel, dem Sohn des Busi, dem Priester, im Land der Chaldäer am Fluss Kebar; dort kam die Hand des HERRN über ihn.“
Ist uns der Wechsel von der ersten Person ‚ich’ in Vers 1 zur dritten Person ‚Hesekiel‘ ‚ihn‘ aufgefallen? Das gibt es oft im Alten Testament. - Psalm 72:20 „Es sind zu Ende die Gebete Davids, des Sohnes Isais.” Wirklich? Nein, später kommen noch welche. Warum steht es dann da? Weil es das Ende von ‚Buch 2‘ der Psalmen war. Danach wurde weitere gefunden. In einigen Bibelübersetzungen findet man auch den Hinweis, dass mit Psalm 73 ‘Buch 3’ anfängt.
Es gibt noch weitere Beispiele aus Jesaja oder verschiedene Versionen des Buches Josua (Siehe Michael S. Heisers Blog) oder Jeremia (siehe Blog).
Und was bedeutet das jetzt? Ist die Bibel jetzt von Gott Wort für Wort inspiriert? Ja oder Nein? Die Antwort ist: Diese Frage führt nicht sehr weit. Wir haben ja schon einige Bewiese gesehen, dass man mit Nein antworten muss. In dieser extremen Form müssen den Satz aus dem ersten Teil noch weiter kürzen:
„Die Bibel ist Gottes Wort, die heilige Schrift,
vollständig von Gott inspiriert (Wort für Wort diktiert) undenthält damit exakt das, was Gott wollte.Sie ist uns genau so bis heute erhalten geblieben,wie die Bibel das selbst sagt,jedes Buch,Absatz,Satz,Wort,Komma und Punkt.“
Und wenn wir schon dabei sind, dann ist es eigentlich auch nicht die heilige Schrift, sondern Heilige Schriften. Und Gottes Wort ist es ja auch nicht so richtig, weil da zum Beispiel in den Evangelien auch die Worte des Teufels in den Versuchungen aufgeschrieben sind. Aber darüber werden wir im nächsten Video, dem Teil 10 sprechen.
Ok. Kann es sein, dass dich diese Erklärungen etwas – na sagen wir einmal – ‚nervös‘ gemacht haben? Dir Angst machen? Oder vielleicht reagierst du eher in die Richtung ‚aggressiv‘: „Das kann so alles nicht stimmen. Hier wird nur mein Glaube untergraben!“ Eine weitere typische Reaktion ist Flucht: Das ist alles nicht so wichtig. Hauptsache wir lieben uns alle. Aber dann würde Matthäus 22:37-40 völlig ausreichen, also Jesu Zusammenfassung. Warum dann 140.000 weitere Worte im Kanon des Neuen Testament? So einfach kann man den Text und seine Herausforderungen wohl doch nicht beiseite schieben. Wir müssen uns wohl oder übel noch weiter mit diesem Thema beschäftigen. Zumindest, wenn wir unseren Glauben und Vorstellungen auf den Tatsachen aufbauen wollen – und nicht auf unseren Wünschen oder überlieferten Vorstellungen.
Und deswegen müssen wir uns im nächsten Teil mit solch geläufigen Begriffen wie ‚die Heilige Schrift‘ oder ‚das Wort Gottes‘ auseinandersetzen, weil mit ihnen unbewusst eine ganze Reihe von Annahmen und Vorstellungen verbunden sind.
Du musst angemeldet sein, um kommentieren zu können.