Weizenfeld mit Sonnenuntergang

Der Kanon – Teil 8: Die Entstehung des Kanon


Von Christian


Für viele ist es vermutlich wie selbstverständlich, dass in ihrer Bibel 27 Schriften enthalten sind, beginnend mit den Evangelien bis zu Offenbarung. Vor Christi Geburt gab es hingegen sicher noch keine Schriften, die wir als ‚christliche Schriften‘ bezeichnen würden. Was ist dazwischen geschehen? Das ist tatsächlich eine spannende – und für das Fundament unseres Glaubens wichtige Angelegenheit. In diesem Teil der Serie können wir nur einen Überblick geben, der auf dem Standardwerk zu diesem Thema von Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“ beruht, das ich nur wärmstens empfehlen kann:

Bruce M. Metzger "Der Kanon des Neuen Testaments"
Bruce M. Metzger “Der Kanon des Neuen Testaments”

In der Einführung schreibt er:

Die Anerkennung der kanonischen Stellung der verschiedenen Bücher des Neuen Testaments war das Ergebnis eines langen und schrittweisen Prozesses, in dessen Verlauf bestimmte Schriften, die als autoritativ betrachtet wurden, von einem weit umfassenderen Corpus christlicher Literatur geschieden wurden. Auch wenn dies eine der bedeutendsten Entwicklungen im Denken und in der Praxis der frühen Kirche war, so schweigt sich die Geschichte im wesentlichen darüber aus, wie, wann und durch wen sie in Gang gesetzt worden ist. In den Annalen der christlichen Kirche ist nichts erstaunlicher als die Abwesenheit detaillierter Berichte über einen so bedeutsamen Prozess.

Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“, Einführung, S. 11 (kursiv nicht im Original)

Wir wissen also nicht, wer diesen Prozess wann in Gang gesetzt hat. Jesus war es nicht. Nirgends lesen wir davon, dass er seine Jünger beauftragt hat, ein ‚heiliges Buch‘ zu schreiben. Die Geschichte und Manuskripte liefern uns aber eine Menge Hinweise, wie der Prozess über gut drei Jahrhunderte ablief. Wir können erkennen, dass es keinen Masterplan gab, keine Auftrag, genau diese 27 Schriften anzufertigen und daraus einen Kanon zu bilden. Den Begriff Kanon verwende ich hier übrigens in dem Sinne als Liste der von Christen anerkannten Bücher. Das Wort selbst kommt aus dem Griechischen und hatte viele verschiedene Bedeutungen und wurde auch in den ersten Jahrhunderten von Christen verschieden gebraucht.

Um die Entstehung des Kanons besser zu verstehen, habe ich einmal wichtige Ereignisse in den ersten vier Jahrhunderten dargestellt:

Die Entsehung des Kanons des Neuen Testaments im Kontext der ersten vier Jahrhunderte

Was vermutlich sofort auffällt, ist der große zeitliche Abstand zwischen der Zeit Jesu, der Apostel und der Entstehung der Schriften und den Nachweisen verschiedener Fassungen des Kanons des Neuen Testaments. Die endgültige Festlegung des Kanons, den wir kennen, geschah erst im vierten Jahrhundert zu der Zeit, als Kaiser Konstantin das Christentum förderte und die Konzile stattfanden, in denen die Lehre der Trinität als Doktrin festgelegt wurde.

Welche Autoritäten wurden von den Jüngern Jesu anerkannt und welchen Einfluß übten sie aus?

1. Vom ersten Tag ihrer Existenz an besaß die christliche Kirche einen Kanon heililger Schriften – die jüdischen Schriften. … Die genauen Abgrenzungen des jüdischen Kanons mögen noch nicht endgültig festgelegt gewesen sein, doch waren seine Bücher schon so ausreichend definiert, daß man sich auf sie kollektiv als »Schrift« (he grafe) oder »die Schriften« (hai grafai) beziehen und Zitate aus ihnen mit der Formel »es steht geschrieben« (gegraptai) einführen konnte.

Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“, Einführung, S. 12

Zum einen ist interessant, das noch um das Jahr 90 n. Chr. der Kanon der jüdischen Schriften diskutiert wurde, obwohl die Übersetzung ins Griechische (Septuaginta) schon über 300 Jahre früher begonnen hatte. Disuktiert wurde nicht, was noch aufgenommen werden sollte, es gab ja eine ganze Reihe von Büchern aus der zweiten Tempelperiode, sondern ob manche im Kanon bleiben sollten (Prediger, Esther, Hohelied).

Zum anderen ist es wichtig, nochmal wie in Teil 2 dieser Serie festzuhalten, was die christlichen Autoren meinten, wenn sie z.B. in 2. Timotheus 3:16, 2. Petrus 1:20 oder Römer 15:4 von ‚der Schrift‘ oder ‚den heiligen Schriften‘ sprachen: Es waren die Schriften des jüdischen Kanons! Nicht ihre eigenen! Wie wir noch sehen werden, haben die Christen erst später begonnen, auch die Schriften eines Paulus oder Petrus so zu betrachten.

2. In den ältesten christlichen Gemeinden gab es noch eine andere Autorität, die ihren Platz Seite an Seite mit der Jüdischen Bibel gefunden hatte, nämliche die Worte Jesu, wie sie mündlich überliefert worden waren. …

Es ist deshalb nicht überraschend, daß in der frühen Kirche die Worte Jesu, deren man sich erinnerte, hochgeschäzt und zitiert wurden und sie dadurch ihren Platz neben dem Gesetz und den Propheten einnahmen und im Hinblick auf ihre Autorität ihnen gleich oder überlegen angesehen wurden.

Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“, Einführung, S. 12, 13

Da wir heute nicht mehr über dieselbe mündliche Überlieferung verfügen, sondern sehr auf die Bibel als Buch fixiert sind, ist es uns vielleicht gar nicht so bewusst, welche immense Bedeutung die mündliche Überlieferung bis weit in das zweite Jahrhundert hatte. Vielleicht prägt sich der Unterschied anhand dieses Schaubilds ein:

Mündliche Überlieferung, Lehren und Glaube, Schriften

Im ersten Jahrhundert und anfangs des zweiten Jahrhunderts war die mündliche Überlieferung durch die Jünger noch so stark, dass neue Lehren und Schriften daran gemessen wurden. Später – und erst recht heute – wurden die Schriften immer maßgeblicher, weil die Kette der vertrauenswürdigen Übermittler der mündlichen Tradition zu lange und unzuverlässig wurde.

3. Parallel zur mündlichen Verbreitung von Jesu Lehren entstanden apostolische Interpretationen zur Bedeutung seiner Person und seines Werkes für das Leben der Gläubigen. …

Wenn auch die Schreiber dieser apostolischen Briefe überzeugt sind, mit Autorität zu sprechen, zeigt sich bei ihnen noch nicht das Bewusstsein, daß ihre Worte einmal als dauernde Norm von Lehre und Leben in der christlichen Kirche angesehen werden könnten. Sie schrieben für einen unmittelbaren Zweck und genauso wie sie geredet hätte, wäre es ihnen möglich gewesen, bei ihren Adressaten anwesend zu sein.

Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“, Einführung, S. 13, 14

In der Fußnote findet sich ein Hinweis, dass bei den patristischen Autoren Hinweise auf Autographen zu finden sind. Tertullian (De Preasc. Haer. 36) erwähnt Thessalonich unter den Städten, an die apostolische Briefe geschrieben und noch im Original verlesen wurden. Das wäre etwa in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts gewesen.

4. Im Laufe der Zeit gewann die christliche Literatur an Umfang und wurde in verschiedenen Gemeinden verbreitet.

Zur gleichen Zeit setzen Anspielungen auf den höheren Rang der apostolischen Schriftsteller, die doch so nahe der Zeit des irdischen Auftretens Jesu gelebt hatten, die früheren Urkunden von den zeitgenössischen Schreiben ab und verhalfen jenen zur Verfestigung als gesondertes literarisches Coprus.

Es überrascht daher nicht, daß die Leser unterscheiden konnten und es auch taten, zwischen dem »Klang« bestimmter Urkunden, die später als kanonisch identifiziert wurden, und dem immer mehr anwachsenden Corpus der patristischen Literatur.

Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“, Einführung, S. 15

Nach dem jüdischen Kanon (Altes Testemant) und den Worten Jesu erhalten nun also auch langsam die Schriften der Apostel und anderen im ersten Jahrhundert einen besonderen, höheren Stellenwert.

5. In dem Zeitalter, das dem der Apostel folgte, vertrat der Ausdruck »der Herr und die Apostel« die Norm, auf die man sich in allen Angelegenheiten des Glaubens und der Lebenspraxis berief. …

Genau auf diese Art öffentlicher Verlesung der christlichen Urkunden bezieht sich Justinus Martyr um 150 n. Chr. Er sagt uns, daß es üblich war, sonntags bei den Gottesdiensten »die Erinnerung der Apostel« (d.h. die Evangelien) oder die Schriften der Propheten zu verlesen. So kam es dazu, daß die christlichen Gemeinden sich daran gewöhnten, die apostolischen Schriften in gewisser Weise als den älteren jüdischen Schriften gleichwertig zu betrachten, und diese liturgische Gewohnheit, auch wenn sie ohne Zweifel in den verschiedenen Gemeinden variierte, drückte bestimmten Evanglien und Briefen den Stempel auf, sie verdienten besondere Hochachtung und Gehorsam.

Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“, Einführung, S. 15

Hier sehen wir die spätere Entwicklung: Dadurch dass sowohl „die Schriften“ des jüdischen Kanon als auch die Schriften der christlichen Autoren nebeneinander im Gottesdienst gelesen wurden, wurden sie ihnen im Laufe der Zeit für Christen als gleichwertig empfunden.

6. Im zweiten und dritten Jahrhundert wurden Übersetzungen der apostolischen Schriften ins Lateinische und ins Syrische angefertigt, möglicherweise auch in die koptischen Dialekte Ägyptens.

Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“, Einführung, S. 16

Insbesondere die Übersetzungen in die Sprache der Menschen in Westeuropa – Latein – führte dazu, dass schon ab etwas dem vierten Jahrhundert diese als ‚die Schriften‘ angesehen wurden und nicht mehr die griechischen (oder aramäischen) Autographen. Wie wir schon festgestellt haben, musste schon Eusebius im 4. Jahrhundert beginnen, die abweichenden Manuskripte zu bewerten und die daraus entstandene Vulgata sollte für viele Jahrhunderte ‚die Bibel‘ der Christen werden.

Doch noch haben wir gar keinen Kanon, keine verbindliche Liste der Schriften, die Teil des Neuen Testaments werden sollen. Selbst der Begriff existiert noch gar nicht. Noch viele, viele Jahrzehnte der Diskussion werden folgen.

Soweit die Einführung in Bruce Metzgers Buch. In den restlichen fast 300 Seiten findet man eine Vielzahl historischer Fakten.

In der patristischen Zeit zeichnen sich die Schriften der apostolischen Väter dadurch aus, dass sie aus den Schriften, die später in den Kanon aufgenommen wurden, zitieren. Aber es sind immer nur ein Teil davon und unterschiedliche. Alle scheinen nur einen Teil dieser Schriften zu kennen.

Für frühe Judenchristen bestand die Bibel aus dem Alten Testament und einigem an jüdischer apokrypher Literatur. Zusammen mit dieser schriftlichen Autorität liefen hauptsächlich mündliche Überlieferungen von Sprüchen um, die man Jesus zuschrieb. Andererseits beziehen sich Autoren, die zum hellenistischen Flügel der Kirche gehörten, häufiger auf Schriften, die später Teile des Neuen Testaments werden sollten. Zur gleichen Zeit jedoch betrachteten sie solche Urkunden als »Schrift«.

Darüber hinaus gab es noch keine Verpflichtung, exakt aus Büchern zu zitieren, die noch nicht im vollen Sinn kanonische waren. … Kurz: Wir finden sowohl in den jüdischen als auch hellenistischen Gruppen eine Kenntnis der Existenz bestimmter Bücher, die später das Neue Testament ausmachen, und mehr als einmal drücken sie ihre Gedanken durch Sätze aus, die aus diesen Schriften genommen sind. Diese Anklänge zielen darauf zu zeigen, daß eine implizite Autorität solcher Schriften gespürt wurde, bevor eine Theorie ihrer Autorität entwickelt worden war. Dieses Autorität hatte zudem in keiner Weise ausschließenden Charakter.

Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“, S. 79

Typisch für diese Zeit ein Brief um das Jahr 95/96 n. Chr., der nach der Tradition Clemens von Rom zu geschrieben wird.

Die alttestamentlichen Zitate werden häufig eingeführt durch solche wohlbekannte Formeln wie »die Schrift sagt« (he grafe legei), »es ist geschrieben« (gegraptai), »das, was geschrieben ist« (to gegrammenon), und sind meist mit großer Genauigkeit dem griechischen Text der Septuaginta entnommen. Anders verhält es sich bei den wenigen neutestamentalischen Zitaten. Anstatt Evangelienmaterial mit Zitationsformeln, die eine schriftliche Aufzeichnung implizieren, einzuführen, drängt Clemens zweimal seine Leser, »eingedenk zu sein der Worte des Herrn Jesus«. In 1 Clem 12,2 stellt Clemens eine Anzahl von Sätzen zusammen, von denen einige bei Matthäus und Lukas zu finden sind, andere aber keine genauen Parallelen in den vier Evangelien haben.

Er kennt verschiedene Paulusbriefe und schätzt sie ob ihres Inhaltes hoch; das gleiche kann vom Hebräerbrief gesagt werden, mit dem er wohl vertaut ist. Auch wenn diese Schriften für Clemens offensichtlich beachtenswerte Bedeutung besitzen, bezieht er sich niemals als autoritative Schrift auf sie.

Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“, S. 50, 52

Über die Entwicklung des Kanons im Osten schreibt Metzger:

Nach der Zeit der Apostolischen Väter treten wir in einen neuen Abschnitt der Geschichte der Bücher des Neuen Testaments ein. Die Bücher der kanonischen Evangelien bilden eine geschlossene Sammlung und werden von der gesamten Kirche in dieser Form rezipiert. Auch die Paulusbriefe werden als inspirierte Schrift angesehen, und hier und da gilt das auch für die Apostelgeschichte und die Offenbarung des Johannes. Einige wenige andere Bücher bewegen sich noch am Rande des Kanons: der Hebräerbrief, der Jakobusbrief, die Petrusbriefe, die Johannesbriefe und der Judasbrief.

Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“, S. 116

In Bezug auf die Entwicklung des Kanons im Westen möchte ich nur einen Aspekt in Verbindung mit Irenäus von Lyon hervorheben:

Gegenüber der Vielzahl der neuen Evangelien der Gnostiker erkennt die Gesamtkirche zur Zeit des Irenäus nur die vier Evanglien bzw. – wie er sich ausdrückt – das eine Evangelium in vierfacher Gestalt (to euaggelion tetramofron) an. Deren Vielzahl wird als gegeben und endgültig angesehen.

»Es kann gar nicht sein, daß die Zahl der Evangelien größer oder kleiner ist, als sie ist, denn in der Welt, in der wir leben, gibt es auch nur vier Himmelsrichtungen und vier Winde … Die vier lebenden Tiere (Apk 4,9) symbolisieren die vier Evangelien … und es gibt vier Hauptbundesschlüsse mit der Menschheit: Noah, Abraham, Mose und Christus.« (Adv. Haer. III 9,8).

Das bedeutet, daß für Irenäus der Kanon der Evanglien geschlossen ist; seine Texte sind heilig. Der apostolische Kanon ist dagegen noch nicht geschlossen und es fällt ihm nicht ein, wie bei den Evangelien über ihre Zahl zu theoretisieren, wenn er von den zwölf Paulusbriefen, ihren Adressaten oder ihre Zuschreibung zu Paulus spricht.

Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“, S. 152

Für uns mag es ganz selbstverständlich sein, von vier Evangelien zu sprechen. Aber in den ersten Jahrhunderten war dies nicht so. Sonst hätte Irenäus sich nicht in solche Zahlenmystik versteigen müssen. „Zur damaligen Zeit, wo es noch keinen fertigen Kanon gab, wurde es keineswegs überall als natürlich angesehen, daß verschiedene, in gewissem Umfang sogar voneinander abweichende Jesusbiographien gleiche Autorität besitzen sollten.“ (S. 248). Das geschah erst mit der Entwicklung und dem Abschluß des Kanons. „Es gibt Grund zu glauben, daß in einigen Kirchen nur ein Evangelium im Gebrauch war, und zwar lange bevor die Kanonfrage abgeschlossen war. Anscheinend war nur das Matthäusevanglium überall in Palästina in Gebrauch. Demgegenüber gab es Kirchen in Kleinasien, die von Anfang an nur das Johannesevangelium besaßen und ebenso wurden auch Lukas und Markus nur in bestimmten Kirchen gelesen.“ (S. 249)

Was die Anzahl der Berichte über Jesus betrifft, ist ja schon die Einleitung des Lukas Evangelium interessant:

Schon viele haben sich darangesetzt, einen Bericht über die Ereignisse zu schreiben, die bei uns geschehen sind und die wir von denen erfahren haben, die von Anfang an als Augenzeugen dabei waren und dann den Auftrag erhielten, die Botschaft weiterzusagen. Nun habe auch ich mich dazu entschlossen, allem von Anfang an sorgfältig nachzugehen und es für dich, verehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Dinge überzeugen, in denen du unterwiesen worden bist.

Lukas 1:1-4 Neue Evangelistische Übersetzung

Viele haben also schon Evangelien im Sinne von Berichte über Jesus geschrieben. Aber nicht alle sind im Kanon. Darüber werden wir in einem späteren Teil dieser Serie noch sprechen. Und es gab die Augenzeugen und mündliche Tradition.

Tatsächlich gab es aber auch Dutzende andere Bücher, die zeitweilig in bestimmten Einzelkirchen als kanonisch angesehen wurden (S. 163). Dazu gehörten apokryphe Evanglien, wie das Hebräerevangelium, das Ägypterevangelium oder das Petrusevangelium. Auch apokryphe Apostelgeschichten gab es sowie apokryphe Briefe. Und schließlich noch apokryphe Apokalypsen, wie die Apokalypse des Petrus oder die des Paulus. So ist zum Beispiel die Apokalypse des Petrus in der Liste der kanonischen Bücher im Codex Claromontanus enthalten (S. 181).

Im Canon Muratori (vermutlich spätes 2. Jahrhundert), das mehr eine Liste von Titeln als ein Kanon ist, finden sich (S. 188ff): a) Die Evangelien. Das Johannesevangelium wird so dargestellt, dass es die gemeinsame Lehre der Zwölf repräsentiert, wogegen die anderen je eine besondere Einzeltradition überliefern. b) Die Apostelgeschichte. c) Die Paulusbriefe, dreizehn an der Zahl. d) Andere Briefe. Judasbrief und zwei Briefe des Johannes. Dann kommt ein »Buch der Weisheit, das von Salomos Freunden zu seinen Ehren geschrieben wurde.« Wie das hineinkommt, versteht bis heute niemand. e) Apokalypsen. Johannes- und Petrusapokalypse. Von letzterem heißt es: »obwohl einige von uns nicht wollen, daß letztere in der Kirche verlesen werden sollte.« Was aber natürlich bedeutet, dass es durchaus verlesen wurde. f) Ausgeschlossene Bücher

Bei Eusebius findet sich schließlich eine doppelte Kategorisierung (S. 197):

Zuerst klassifiziert Eusebius die Schriften nach dem Kriterium der Kanonizität und stellt »kanonisch« gegen »nicht kanonisch«. Dann unterscheidet er nach ihrem Charakter und stellt »orthodox« gegen »häretisch«. … Diese Einteilung kann uns aber erklären, wieso Eusebius die Johannesoffenbarung zwei Klasen zuordnen konnte. Der Historiker erkennt, daß die Schrift weitgehendst anerkannt ist, aber als Kirchenmann weiß er um den außerordentlichen Gebrauch, den die Montanisten und Millenaristen von dem Buch machen. Und so ist er froh, an einer anderen Stelle seiner Kirchengeschichte berichten zu können, daß andere sie nicht für echt halten.

Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“, S. 198

Klingt vielleicht trocken und langweilig, aber zeigt eine interessante Fragestelltung auf: Sollte eine Schrift allein schon dadurch als ‚heilige Schrift‘ angesehen werden, weil sie Teil eines Kanons ist? Was machen denn die meisten Christen heute, wenn man ihnen eine Schrift vorlegt und fragt, ob das von Gott inspiriert ist? Genau, finden sie die Schrift in ihrer Bibel, dann ist sie ok. Aber die Liste der Bücher in unserer Bibel ist genau der Kanon des Neuen Testaments, der in den ersten vier Jahrhunderten erarbeitet worden ist. Im ersten Jahrhundert wurde der Inhalt mit den mündlich überlieferten Lehren überprüft. Und zur Zeit des Eusebius war man jetzt irgendwie dazwischen. Wenn eine Schrift sonntags immer wieder in der Gemeinde vorgelesen wurde, dann war sie doch Teil eines ‚Kanons‘ und damit zu akzeptieren, oder? Das ist in etwa die erste Einteilung von Eusebius. Aber er hat auch immer noch die zweite: Ist die Schrift vom Inhalt her »orthodox«, stimmt also mit den Lehren der Kirche überein? Viele der Kirchenväter fanden auch andere Schriften als nutzbringend und zum Vorlesen geeignet, zählten sie aber nicht unbedingt zum engeren Kreis der von den meisten anerkannten Schriften. Der Hirte von Hermas war zum Beispiel so eine Schrift.

Noch um 325 n. Chr. berichtet Eusebius, das in der Kirche im Osten die Autorität der meisten katholischen Briefe (also allgemeinen, nicht an eine spezielle Gemeinde gerichteten) und der Johannesoffenbarung noch zweifelhaft ist. (S. 201)

Selbst noch im Jahr 691/692 kommt dies in einer erstaunlichen konziliaren Entscheidung durch die Trullanische Synode zum Ausdruck: „Indirekt sanktionierte das Konzil mit Blick auf einen biblischen Kanon kaum zusammengehende und sich geradezu widersprechende Meinungen. So haben wir zum Beispiel gesehen, daß die Synode von Karthago und Athanasius die kleinen katholischen Briefe und die Offenbarung als kanonisch anerkannten, wohingegen die Synode von Laodicäa und der fünfundachzigste apostolische Kanon sie verwarfen. Der zuletzt genannte Kanon betrachtet die zwei Clemensbriefe als kanonisch, die anderen verwerfen sie.“ (S. 208) Zusammenfassend schreibt Metzger: „Die offiziellen Lektionare der griechischen Kirche enthalten weder in byzantinischer noch in moderner Zeit die Johannesoffenbarung. Dadurch wird die geringere Stellung dieses Buches im Osten deutlich. Und es ist bezeichnend, daß – stellt man die Zahl aller noch vorhandenen Exemplare in Rechnung – nur sehr wenige Christen je ein gesamtes Neues Testament gesehen oder besessen haben dürften.“ (S. 209)

Insbesondere der letzte Satz wirft ein wichtige Frage auf: Wie passt die Idee, dass Gott und Jesus geplant hätten, dass ein Kanon mit diesen 27 Büchern genau das ist, was jeder Nachfolger Jesu braucht, mit der historischen Tatsache zusammen, dass in den ersten Jahrhunderten praktisch kein Christ den kompletten Kanon des Neuen Testaments je in seinem Leben gesehen oder gehört hat?

Die Entwicklung im Westen fasst Metzger so zusammen: „Siebenundzwanzig Bücher, nicht mehr, nicht weniger – so lautet seitdem die Losung in der ganzen lateinischen Kirche. Es wäre falsch, es so darzustellen, als wäre die Kanonfrage zu Beginn des fünften Jahrhunderts für alle christlichen Kirchen damit erledigt gewesen. Die Handschriften der Paulusbriefe (und ganzer Bibeln) wurden nicht sofort erweitert oder durch vollständige Exemplare ersetzt und so dem Hebräerbrief der ihm nun auch offiziell zuerkannte Platz eingeräumt. So fehlt der Hebräerbrief in einer lateinischen und griechischen Handschrift (MS G) aus dem neunten Jahrhundert. Andererseits tauchen Handschriften mit dem Brief an die Laodicäer auf. So treffen wir, trotz des Einflusses des Hieronymus, des Augustinus und der Beschlüsse der drei Provinzsyndoden, in den folgenden Jahrhunderten mehr als einmal auf Zeugnisse, die vom Kanon abweichen: Entweder werden Schriften hinzugefügt, oder es fehlen einige.“ (S. 227)

Was den Kanon des Neuen Testamentes betrifft, ist dieser bis heute tatsächlich so geblieben. Allerdings hat sich Luther gegen einige Bücher ausgesprochen und in Frage gestellt, ob sie Teils des Neuen Testaments sein sollten und deswegen die Reihenfolge geändert. Und in der äthiopischen Kirche gibt es einen erweiterten Kanon. Der englische Artikel in der Wikipedia enthält einen schöne Übersichtstabelle dazu. Im gleichen Artikel findet man auch eine Tabelle zum Kanon des Alten Testaments. Dort erkennt man allderings erhebliche Unterschiede zwischen dem Judaismus, protestantischen Kirchen, katholischen Kirchen sowie den verschiedenen orthodoxen Kirchen. In katholischen Bibeln findet man zum Beispiel Apokryphen, die man in protestantischen Bibeln nicht findet.

Da wir nun schon so viel über die Geschichte des Kanon in wenigen Minuten erkannt haben, können wir das einmal mit dem vergleichen, was die Leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas im Buch Einsichten über die Heilige Schrift – Band 1 unter dem Stichwort ‚Inspiration‘ zum Kanon sagt:

Doch wenn Gott gewissen Christen durch seinen Geist oder seine wirksame Kraft die Fähigkeit zur „Unterscheidung inspirierter Äußerungen“ verlieh, so konnte er auch die leitende Körperschaft der Christenversammlung so leiten, dass sie zu unterscheiden vermochte, welche inspirierten Schriften in den Kanon der Heiligen Schrift aufgenommen werden sollten und welche nicht (1Ko 12:10; siehe KANON).

Einsichten über die Heilige Schrift – Band 1, S. 1229 (kursiv von mir)

Wenn wie sonst auch in der Literatur der Zeugen Jehovas mit ‚leitende Körperschaft‘ die Versammlung der Apostel und Ältesten in Jerusalm gemäß Apostelgeschichte 15 gemeint ist, dann hat diese keinen Kanon zusammengestellt. Wie hätte sie auch, wenn doch die meisten Teile davon noch gar nicht existierten. Ansonsten müssten aber ja die Päpste und Bischöfe bis ins 5. Jahrhundert als ‚leitende Körperschaft‘ angesehen werden, was wohl kaum gewollt war. Es ist also einfach nur falsch und irreführend und soll einfach von der schriftgemäßen Aussage ablenken, dass Christen – und auch nicht nur ‚gewisse Christen – durch den heiligen Geist unterscheiden konnten. Ok, zurück zum Thema.

Heute sieht der Kanon des Neuen Testaments so stabil aus, als ob der direkt von Gott so entworfen worden wäre, mit genau 27 Büchern. Aber das war das Ergebnis der Entwicklung des Kanon im Westen der Kirche in einem Zeitraum von mindestens 400 Jahren. Ist der Kanon also nur Menschenwerk? Dazu muss sich jeder selbst eine Meinung bilden, wobei folgender Text von Metzger hilfreich ist:

Ohne hier die Diskussion auf das Paradox von der doppelten Veranlassung, d.h. menschlicher und göttlicher, ausdehen zu wollen, wonach Ereignisse sowohl von Gott als auch vom Menschen veranlaßt sein können, so ist doch zu fragen, ob Marxsen berechtigt ist, zu erklären, daß »vom geschichtlichen Standpunkt aus der Kanon ein Zufallsprodukt ist«. Marxsens Urteil ist keine notwendige Folge historischen Wissenschaft, sondern ein rein philosophisches Urteil. Es gibt keine historischen Daten, die davon abhalten, sich der Ansicht der Gesamtkirche anzuschließen, wonach, trotz aller menschlichen Bedingungen (confusio hominum) in der Herstellung, Erhaltung und Sammlung der Bücher des Neuen Testaments, der ganze Vorgang mit Recht auch als ein Ergebnis der göttlichen Vorsehung (providentia dei) angesehen werden kann. Das wird nirgends deutlicher als in den Fällen, in denen ein Buch mit offensichtlich falschen Begründungen als kanonisch anerkannt worden ist. Zum Beispiel irrte ein großer Teil der Kriche, als sie den anonymen Hebräerbrief dem Apostel Paulus zuschrieb. Jeder wird aber zustimmen, daß sie intuitiv richtig lag und im Lauf der Zeit den inneren Wert des Briefs erkannte.

Bruce M. Metzger „Der Kanon des Neuen Testaments“, S. 268

”Es gibt keine historischen Daten, die davon abhalten …” bedeutet aber auch, das die historischen Daten den Schluß nicht gerade aufdrängen, dass hier Gottes Hand die Führende war.

Wir sollten auch nicht die zeitliche Dimension vergessen, die wir im Diagramm zu beginn gesehen haben. Und dass es die gleichen kirchlichen Würdenträger waren, welche den Kanon also auch Lehren wie die Trinität festlegten und für die Verfolgung aller anderen Meinungen die Verantwortung mit tragen.

Wir neigen auch dazu, nur das Ergebniss dieser Prozesses zu sehen: Schließlich ist das Neue Testament wiederhergestellt. Und damit ist alles gut. Wir haben gesehen, dass dieser Prozess eigentlich gar nicht abgeschlossen ist und viele Schriften des ersten Jahrhunderts – geschweige denn die mündliche Tradition – uns nicht mehr zur Verfügung stehen. Und vor allem: Während dieses Jahrhunderte dauernden Prozesses hatten Christen keinen Kanon unverfälschter und vertrauenswürdiger Schriften.

Was unsere Behauptung aus dem ersten Teil der Serie betrifft, interpretiere ich den Teil „enthält damit exakt das, was Gott wollte“ so, dass es jeden menschlichen Einfluß ausschließt. Versteht man es so, dann muss man diesen aufgrund der uns nun bekannten Fakten auch streichen.

„Die Bibel ist Gottes Wort, die heilige Schrift, vollständig von Gott inspiriert und enthält damit exakt das, was Gott wollte. Sie ist uns genau so bis heute erhalten geblieben, wie die Bibel das selbst sagt, jedes Buch, Absatz, Satz, Wort, Komma und Punkt.“

Ich weiß, manche oder mancher wird sich jetzt verzweifelt diesen Satz ansehen und sich fragen, ob denn überhaupt noch etwas übrig bleibt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Satz eine sehr, sehr weitreichende Behauptung darstellt – die sich so nicht halten lässt. Aber direkt unter der Oberfläche dieses perfekten Wunschbilds finden wir stabileren Grund. Oder um es einmal etwas salopp zu sagen: Du kannst wie die sprichwörtliche Prinzessin warten, bis der ideale, perfekte Wunschprinz kommt. Oder zusammen mit dem realen Prinzen glückliche werden, der dem Ideal so nahe wie möglich kommt.


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