Weizenfeld mit Sonnenuntergang

Der Kanon – Teil 7: Absichtliche Änderungen in den Manuskripten


Von Christian


Im vorigen Teil dieser Serie haben wir über die Manuskripte, die Textzeugen, gesprochen und welche Änderungen unabsichtlich erfolgt sind.

Davor hatten wir in „Der Kanon – Teil 5: Das Comma Johanneum“ mit 1. Johannes 5:7,8 allerdings schon ein sehr berühmtes Beispiel für eine absichtliche Änderung ausführlich betrachtet. War das eine seltene Ausnahme? Schon im 2. Jahrhundert argumentierte ein heidnischer Kritiker der Christen namens Celsus, dass die Christen ihre Texte ganz nach ihrem Gutdünken ändern. Interessant ist, das Origines in seiner Entgegnung dies nicht abstritt, sondern von einer großen Zahl von Unterschieden in den Manuskripten der Evangelien spricht. Gut ein Jahrhundert später war Papst Damasus so sehr über die Unterschiede in den lateinischen Manuskripten beunruhigt, dass er Hieronymus beauftragte, einen standardisierten Text zu erstellen, der dann Bestandteil der Vulgata wurde. Und schon er musste verschiedene, voneinander abweichende Manuskripte in Latein und Griechisch vergleichen.

Im Falle von absichtlichen Änderungen, ist es natürlich sehr viel schwieriger, diese zu finden und zu bewerten. Im Folgenden betrachten wir einmal einige, um auch etwas über die möglichen Beweggründe zu erfahren.

Absichtliche Irrtümer

Manche Änderungen wurden beim Kopieren eines Manuskripts eingefügt, weil man glaubte, dass eine Randnotiz (Glosse) oder Einschub zwischen den Zeilen kein zusätzlicher Kommentar war, sondern eigentlich in den Text gehörte. Und einige davon sind immer noch in aktuellen Übersetzungen zu finden und nicht immer durch eine Fußnote gekennzeichnet. So zum Beispiel in Offenbarung 20:5.

Die übrigen Toten kamen nicht zum Leben, bis die tausend Jahre vollendet waren. Das ist die erste Auferstehung.

Offenbarung 20:5 Einheitsübersetzung 2016

Der erste Satz fehlt im Codex Sinaticus, im Codex Vaticanus und den aramäischen Texten (siehe dieser Artikel). Die Übersetzer der 2001 Translation merken an:

Diese bekannte Beschreibung der Auferstehung wird seit Jahren zitiert und als Grundlage für viele religiöse Lehren verwendet. Die oben fett gedruckten Worte finden sich jedoch nicht in der ältesten griechischen Handschrift der Bibel, dem Codex Sinaiticus. Auch in der ältesten aramäischen Handschrift, dem Khabouris Codex, sind sie nicht zu finden.
Daher scheinen sie eine spätere, unechte Ergänzung der Bibel zu sein, und deshalb haben wir sie gestrichen. Wahrscheinlich handelt es sich um persönliche Notizen eines alten Predigers, die er zwischen die Zeilen geschrieben hat; sie wurden wahrscheinlich von späteren Kopisten in den Haupttext eingefügt, die nicht erkennen konnten, ob sie Teil des ursprünglichen Textes waren oder nicht.

Kommentar 2001 Translation zu Offenbarung 20:5

Man kann den Leser aber auch noch etwas mehr in die Irre führen:

(Die übrigen der Toten kamen nicht zum Leben, bis die tausend Jahre zu Ende waren.)* Das ist die erste Auferstehung*.

Wenn ihr daher das abscheuliche Ding, das Verwüstung verursacht, von dem Daniel, der Prophet, geredet hat, an heiliger Stätte stehen seht (der Leser wende Unterscheidungsvermögen an), …

Offenbarung 20:5; Matthäus 24:15 Neue-Welt-Übersetzung 1986

Wer einmal den gedanklichen Einschub in Klammern in Matthäus 24:15 gelesen hat, wird in Offenbarung 20:5 in der gleichen Übersetzung doch vermuten, dass dies genauso ein gedanklicher Einschub ist. Immerhin konnte man in der alten NWÜ noch in der Fußnote lesen: „„Die übrigen der Toten . . . zu Ende waren“, AVg; fehlt in אSyp.“ In der aktuellen Ausgabe fehlt diese Fußnote. Dafür wird jetzt in Matthäus 24:15 ein Gedankenstrich anstelle der Klammer verwendet. Offenbarung 20:5 ist halt sehr wichtig für die Lehren der Zeugen Jehovas. Allerdings kann man den ersten Teil, der in den ältesten Manuskripten nicht enthalten ist und später an verschiedenen Stellen als Randnotiz in einigen Manuskripten zu finden ist, nicht als gesichert betrachten. Und daher ist es ein gutes Beispiel dafür, dass man vorsichtig sein sollte, wenn eine gewisse Lehre auf nur einem einzigen Text beruht.

Absichtliche Änderungen

[Beispiele aus Bart D. Ehrman Misquoting Jesus: The Story Behind Who Changed the Bibel and Why, Kapitel 3]

In Markus 1:2,3 lesen wir:

 ‹Es begann›, wie es beim Propheten Jesaja geschrieben steht: “Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her. Er wird dein Wegbereiter sein. Hört, in der Wüste ruft eine Stimme: ‘Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet seine Pfade!’

Markus 1:2,3 Neue Evangelistische Übersetzung

Das Problem ist, dass hier nicht nur aus Jesaja zitiert wird, sondern auch aus Maleachi und 2. Mose. Deswegen haben einige Schreiber das so geändert: „wie es bei den Propheten geschrieben steht“.

Ein weiteres Beispiel ist Matthäus 24:36:

Doch Tag und Stunde von diesen Ereignissen weiß niemand, nicht einmal die Engel im Himmel; [Wenige Handschriften fügen nach Markus 13,32 hinzu: oder der Sohn selbst.] nur der Vater weiß es.

Von jenem Tag aber und jener Stunde weiß niemand, auch nicht die Engel in den Himmeln, auch nicht der Sohn, sondern der Vater allein.

Matthäus 24:36 Neue Evangelistische Übersetzung, Elberfelder

Einige Schreiber haben sich wohl gefragt, wie das sein kann: Der Sohn Gottes weiß das nicht? Ist er nicht auch allwissend? Der Text wurde wohl auch als Argument gegen die Trinität verwendet. Das wollte man verhindern. Und so wurde der Teil „auch nicht der Sohn“ weggelassen.

In Matthäus 17:12-13 wollten einige Abschreiber dem Missverständnis vorbeugen, dass Johannes der Täufer der Sohn des Menschen wäre. Und so fügten sie die Erklärung ein: „seiner Jünger erkannten, dass er zu ihnen über Johannes den Täufer sprach.“.

Einge ganze Reihe von weiteren Änderungen wurden durchgeführt, damit der Text nicht von ‚Häretikern‘ verwendet werden konnte.

Zum Beispiel in Lukas 5:38-39

Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst wird der neue Wein die Schläuche zerreißen, und er selbst wird verschüttet werden, und die Schläuche werden verderben; sondern neuen Wein füllt man in neue Schläuche. Und niemand will, wenn er alten getrunken hat, neuen, denn er spricht: Der alte ist milde.

Lukas 5:38-39 Elberfelder

Als im zweiten Jahrhundert es eine Strömung unter den Christen gab, die überzeugt war, dass die alte Religion der Juden vollständig durch die neue Relgion der Christen überholt war, war ihnen der Schluß dieses Textes suspekt: Wie konnte Jesus sagen, dass der alte Wein besser ist als der neue? Und so haben Abschreiber den letzten Teil einfach weggelassen.

Für einige Abschreiber genügte es auch nicht, dass Jesus in Matthäus 1:16 nicht der Sohn Josephs genannt wird. Anstatt dass Joseph der Ehemann Marias war, änderten sie den Text so, dass er nur der Verlobte war. Jesus durfte auf keinen Fall einen menschlichen Vater haben.

Als eine asketische Lebensweise für einige Christen an Bedeutung gewann, fügte man in Markus 9:29 ‚ und Fasten’ hinzu:

“Solche Geister können nur durch Gebet [Spätere Handschriften haben hier eingefügt: “und Fasten”.] ausgetrieben werden”, erwiderte Jesus.

Markus 9:29 Neue Evangelistische Übersetzung

Eine der bekanntesten liturgischen Änderungen ist die des Gebets des Herrn in Lukas. Das Gebet in Lukas scheint hoffnungslos verkürzt zu sein im Vergleich zu den bekannten Worten in Matthäus 6:9-13. Daher haben Abschreiber den Text in Lukas ‚harmonisiert‘ unbd einfach Teile aus Matthäus in Lukas eingefügt.

In manchen Übersetzungen kann man auch heute noch einen Bericht lesen, der einen mehr an die Apokryphen erinnert:

In diesen lag eine große Menge von Kranken, Blinden, Lahmen und Abgezehrten, welche auf die Bewegung des Wassers warteten.  Denn ein Engel stieg zu gewissen Zeiten in den Teich hinab und bewegte das Wasser. Wer nun nach der Bewegung des Wassers zuerst hineinstieg, der wurde gesund, mit welcher Krankheit er auch geplagt war.

Johannes 5:3,4 Schlachter 2000

In den ältesten und besten Manuskripten findet man keine Bewegung des Wasser und die Begründung dafür. Aufgrund der mündlichen Überlieferung wurde dieser Teil von Abschreibern später hinzugefügt. Gemäß den ältesten und besten Manuskripten lesen wir nur:

In diesen Hallen lagen Scharen von kranken Menschen, Blinde, Gelähmte, Verkrüppelte.

Johannes 5:3,4 Neue Evangelistische Übersetzung; gemäß den ältesten und besten Manuskripten

Es gibt aber noch weitere absichtliche Änderungen des Textes, welche sich stärker auf die zentrale Botschaft und Lehren des Textes auswirken.

Jesus Christus war voller Liebe und Mitgefühl, nicht wahr? So steht zum Beispiel in Markus 1:41

 Jesus hatte Mitleid mit ihm, berührte ihn mit seiner Hand und sagte: “Ich will es, sei rein!”

Markus 1:41 Neue Evangelistische Übersetzung

Viele werden den Text kennen und er berührt vermutlich uns alle. In einer anderen Übersetzung können wir aber lesen:

Von tiefem Mitleid ergriffen, streckte Jesus [AL(1) 41 – “Jesus wurde zornig, streckte”.] die Hand aus und berührte ihn. »Ich will es«, sagte er, »sei rein!

Markus 1:41 Neue Genfer Übersetzung

In einem der ältesten Textzeugen jedoch, dem Codex Bezae, und drei lateinischen Manuskripten finden wir also anstatt dem griechischen Wort splangnistheis (Mitgefühl haben) das wort orgistheis (zornig sein). Aufgrund dieser Textzeugen kann man davon ausgehen, dass diese Textvariante auf das zweite Jahrhundert zurückgeht. Kann das aber sein, dass Jesus zornig oder ärgerlich ist? In Lukas und Matthäus wird er nie so dargestellt. Und viele Gelehrte gehen davon aus, dass Markus eine Quelle für beide war. Doch selbst wenn sie den Text aus Markus ziemlich genau widergeben, wird ausgespart, dass Jesus zornig war. Doch auch in Markus 3:5 können wir lesen, dass er ‚voll Zorn‘ über die Menschen war. Und gemäß Markus 10:14 war er sogar über seine Jünger ärgerlich oder unwillig. Sowohl Matthäus als auch Lukas berichten das Selbe, aber ohne Jesu Gefühle zu erwähnen. Und schließlich hat er den Kranken gemäß Markus 1:43 auch ‚angefahren‘, ‚bedroht‘, ‚streng zurechtgewiesen‘.

Könnte es sein, dass unser Bild von Jesus zu sehr vom Matthäus-, Lukas- und besonders Johannes-Evangelium geprägt ist. Und wir das Wesen Jesu gemäß dem Markus-Evangelium ignorieren? Da wären wir nicht die ersten. Einige Abschreiber in der frühesten Geschichte der Christen haben deswegen den Text der Manuskripte geändert.

So wird Jesus im Lukas-Evangelium als durch nichts zu erschüttern dargestellt. Bis auf sein Gebet auf dem Ölberg gemäß Lukas 22:39-46.

Vater, wenn du willst, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Doch nicht mein Wille, sondern der deine geschehe. Da erschien ihm ein Engel vom Himmel und stärkte ihn. Und er geriet in Todesangst und betete inständiger, und sein Schweiss tropfte wie Blut zur Erde. Und er erhob sich vom Gebet, ging zu den Jüngern und sah, dass sie vor lauter Kummer eingeschlafen waren.

Lukas 22:43-45 Züricher

In einigen der ältesten und besten Manuskripten (in ‚alexandrinischen‘ Texten) finden sich die durchgestrichenen Worte nicht. Aber in einigen anderen alten Textzeugen. Daher diskutieren die Gelehrten immer noch, ob diese Worte von Lukas sind oder nicht. Und auch wenn dieser Text vielleicht kein zentrales Dogma betrifft, so verändert es das Bild von Jesus doch erheblich. Und es gab schon sehr, sehr früh verschiedene Fassungen diese Evangeliums.

Und auch in Hebräer 2:8-9 ist eine Lehre über Jesus Tod betroffen:

Wir sehen aber den, der ein wenig unter die Engel erniedrigt war, Jesus, wegen des Todesleidens mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt, damit er durch Gottes Gnade für jeden den Tod schmeckte.

Hebräer 2:9 Elberfelder

Die meisten Textzeugen enthalten den Gedanken, das Jesus „durch Gottes Gnade“ den Tod erlitten hat. Aber was bedeutet das? In einigen anderen Textzeugen steht aber, dass Jesus „von Gott getrennt“ gestorben ist. Und Origines schreibt im frühen 3. Jahrhundert, dass dies in den meisten Manuskripten seiner Zeit zu finden war. Was war wohl im Autographen gestanden? Wir wissen es nicht. Und nicht einmal Origines im frühen 3. Jahrhundert konnte es noch herausfinden. Beide Varianten haben interessante theologische Konsequenzen. Im Rahmen dieser Serie wollen wir festhalten: Es ist ein Beispiel für einen Text, bei dem wir seit dem 3. Jahrhundert bis heute nicht wissen, was ‚richtig‘ ist. Der Text wurde uns von Gott nicht eindeutig und sicher überliefert.

Absichtliche, theologisch motivierte Änderungen des Textes

Führen wir nur noch einige wenige Beispiele für absichtliche Änderungen des Textes an, bei denen man erkennen kann, gegen welche Ansicht unter den Christen diese gerichtet war. Auf diese verschiedenen Ströungen und ihre Bedeutung für die Entwicklung das Kanons der christlichen Schriften werden wir in einem späteren Teil dieser Serie noch eingehen.

Gegen den dynamischen Monarchianismus oder Adoptianismus

Im 2. und 3. Jahrhundert gab es eine Reihe von christlichen Gruppen, welchen den dynamischen Monarchianismus oder Adoptianismus vertraten (siehe Wikipedia oder Bart D. Ehrmann, Misquoting Jesus: The Story Behind Who Changed the Bibel and Why, Kap. 6). Die bekanntest Gruppe war die der jüdisch-christliche Sekte der Ebioniter. Zum einen bestanden sie darauf, dass alle Nachfolger Jesu auch Juden werden mussten. Sie waren auch strenge Monotheisten in dem Sinne, dass für sie nur Gott, der Vater, eine göttliche Natur haben kann. Jesus existierte nicht vor seiner Geburt als Mensch. Er wurde von Gott wegen seiner besonderen Rechtschaffenheit von Gott bei seiner Taufe als Sohn ‚adoptiert‘. Aufgrund seiner Treue bis zum Tod am Kreuz wurde er von Gott belohnt, indem er ihn auferweckte und in den Himmel erhob.

Diese Ansicht widersprach allerdings der sich entwickelnden Lehre der Trinität, welche die proto-orthodoxe Kirche vertrat. Daher änderte jemand den Text in 1. Timotheus 3:16 auf eine Weise, welche man sogar noch heute in Bibeln findet:

Und anerkannt groß ist das Geheimnis der Gottesfurcht: Gott ist geoffenbart worden im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, gesehen von den Engeln, verkündigt unter den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

1. Timotheus 3:16 Schlachter 2000

In den frühesten Manuskripten wie dem Codex Alexandrinus allerdings findet man dies:

Wahrhaftig, groß ist das Geheimnis unserer Frömmigkeit: Er wurde offenbart im Fleisch, / gerechtfertigt durch den Geist, geschaut von den Engeln, / verkündet unter den Völkern, geglaubt in der Welt, / aufgenommen in die Herrlichkeit.

1. Timotheus 3:16 Einheitsübersetzung 2016

Aus ‚er‘, was sich klar auf Jesus bezog, wurde ‚Gott‘. Im griechischen ein kleiner Unterschied von ΟΣ nach ΘΣ (als Abkürzung für ΘΕΟΣ, Gott). So kam es, dass viele Christen über fast 2.000 Jahre in diesem Text den Gedanken fanden, dass Gott im Fleisch geoffenbart worden ist. Da es hier um eine zentrale Lehre der christlichen Kirchen geht, ist dies keine nebensächliche Änderung gewesen.

Aus einem ähnlichen Grund findet man auch heute noch dies:

Und Joseph und seine Mutter verwunderten sich über das, was über ihn gesagt wurde.

Lukas 2:33 Schlachter

Wohingegen man in vielen anderen Übersetzung lesen kann:

Und sein Vater und seine Mutter wunderten sich über das, was über ihn geredet wurde.

Lukas 2:33 Elberfelder

Eine große Anzahl von Abschreibern ersetze Vater durch Joseph, weil sie verhindern wollten, dass der Eindruck entsteht, Jesus hätte einen menschlichen Vater gehabt, was den Adoptionisten in ihrer Argumentation geholfen hätte.

Wie gesagt ging es in der Auseindandersetzung auch darum, wann Jesus Gottes Sohn wurde. Diese Texte sind in diesem Zusammenhang von Interesse:

Und eine Stimme kam aus dem Himmel: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.

Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.

Markus 1:11; Lukas 3:22 Züricher

In einem frühen griechischen Manuskript und verschiedenen lateinischen findet man allerdings dies:

Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.

Frühes griechisches Manuskript, lateinische Manuskripte und Zitate der Kirchenväter

Tatsächlich zitierten diesen Text im 2. und 3. Jahrhundert viele Kirchenväter sehr oft, also zu einer Zeit bevor die meisten der erhaltenen Textzeugen entstanden. Und welche Aussage haben sie fast immer zitiert? „Heute habe ich dich gezeugt“.

Gegen den Doketismus

Eine andere Gruppe von Christen hatte die genau gegensätzliche Ansicht gegenüber dem Adoptianismus, welche Doketismus genannt wird (Wikipedia). Der Name kommt vom griechischen Wort DOKEO, was soviel wie ‚als etwas erscheinen‘ bedeutet. Demgemäß war Jesus vollständig und ausschließlich göttlich. Er ‚erschien‘ nur ein Mensch zu sein, denn als Gott konnte er ja nicht auch Mensch sein.

Einige Abschreiber wollten aber sicherstellen, dass Jesus auf der Erde sehr wohl ein echter Mensch war. Daher fügten sie den Teil über Jesus Schweiß wie Blut in Lukas 22:43-45 hinzu, den wie schon besprochen haben.

Einen weiteren Zusatz finden wir bei der Beschreibung des Abendmahls:

Und er nahm einen Kelch, sprach das Dankgebet und sprach: Nehmt ihn und teilt ihn unter euch. 18 Denn ich sage euch: Von jetzt an werde ich von der Frucht des Weinstocks nicht mehr trinken, bis das Reich Gottes kommt. 19 Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach es und gab es ihnen und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Dies tut zu meinem Gedächtnis. 20 Und ebenso nahm er den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das vergossen wird für euch. Doch seht, die Hand dessen, der mich ausliefert, ist bei mir auf dem Tisch.

Lukas 22:17-21 Züricher.

Der durchgestrichene Teil fehlt in einem der ältesten griechischen Manuskripte und einigen lateinischen Textzeugen. Typisch für eine Änderung ist die Angleichung an den Bericht in 1. Korinther 11:23-25. Und den sich daraus ergebenen Umstand, dass dadurch unerwartet von zwei Kelchen die Rede ist: Vor und nach dem Brot. Warum der Text hinzugefügt wurde, zeigt sich zum Beispiel in der Schrift des Tertullian Gegen Marcion: Es sollte betont werden, dass Jesus einen echten Körper aus Fleisch hatte, der auch geopfert wurde. Doch das wollen wir hier jetzt nicht vertiefen.

Gegen die ‚Separationisten‘

Im 2. und 3. Jahrhundert gab es noch eine weitere Strömung, die wir ‚Separationsisten‘ nennen könnten, auch wenn dies keine gebräuchliche Bezeichnung ist. Für sie gab es Jesus, der nur Mensch war (wie bei den Adoptionisten) als auch den Christus, nur göttlich war (wie im Doketismus). Diese Vorstellung findet man häufig auch bei den damaligen Gnostikern.

Einen Text, der geändert wurde, um gegen diese Ideen anzugehen, haben wir schon betrachtet: Hebräer 2:9. Der Gedanke, dass Jesus „getrennt von Gott“ starb und nicht „durch Gottes Gnade“ hätte zu dieser Vorstellung nur zu gut gepasst.

Gemäß Irenäus war das Markus Evangelium die erste Wahl derer, die „Jesus von Christus trennen.“ Daher wurde Markus 15:34 geändert:

und in der neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eloí, Eloí, lemá sabachtháni?, was übersetzt ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Markus 15:34 Elberfelder

Es gibt solide Beweise – z.B. im Philippusevangelium, dass einige gnostische Gruppen diesen Text sehr wörtlich auslegten und als denn Moment ansahen, an dem der göttliche Christus sich vom menschlichen Jesus trennte. Daher gibt es ein griechisches und mehrere lateinische Manuskripte, in denen die Abschreiber den Text durch dies ersetzten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verspottet?“ Kreativ war das schon, denn in dem Bericht über Jesu Hinrichtung in Markus haben ihn fast alle verspottet. Aber es ist nicht in unseren frühesten und besten Textzeugen und passt auch nicht zum aramäischen Text.

Wie werden Unterschiede beurteilt?

Nachdem wir nun eine ganze Reihe von absichtlichen Veränderungen am Text betrachtet haben, stellt sich die Frage, wie man solche Änderungen und Unterschiede bewerten kann. Mehrere Kriterien sollten in Betracht gezogen werden, um zu beurteilen, wie zuverlässig ein Wort, ein Text oder eine Passage ist. (Siehe Artikel im Forum).

Eine Übersicht und Erklärung zu verfälschten Texten ist in den Artikeln im Forum zu finden (je Text ein eigener Artikel).

Die Übersetzer der 2001Translation führen diese drei Kriterien bezüglich der Manuskripte an:

A. Die Worte fehlen in den ältesten und zuverlässigsten Handschriften (z. B. Matthäus 6:13). Das ist ein direkter Beweis dafür, dass sie später hinzugefügt wurden.

B. Der Wortlaut hat in verschiedenen Handschriften unterschiedliche grundlegende Bedeutungen (z. B. Apostelgeschichte 7:16). Das deutet darauf hin, dass es kein Original gab, an dem man sich orientieren konnte, und dass es sich wahrscheinlich um allgemeine Notizen handelt, die von vielen Menschen hinzugefügt wurden, bevor sie in den Text übertragen wurden.

C. Die Wörter springen in verschiedenen Handschriften an unterschiedlichen Stellen herum (z. B. 1. Korinther 14:33). Das deutet darauf hin, dass frühere Kopisten wussten, dass sie nicht im Original waren, und sie deshalb an verschiedenen Stellen als Randbemerkung abgeschrieben haben, bis sie schließlich von verschiedenen Kopisten in den Text übernommen wurden, wo immer sie sie fanden.

2001Translation, siehe Artikel im Forum

Es gibt auch Kriterien, die den Kontext berücksichtigen:

D. Die Worte sind aus dem Kontext gerissen und unterbrechen die Erzählung (z. B. Matthäus 27:52-53). Bei den ursprünglichen Worten wäre das nicht der Fall, aber bei späteren Hinzufügungen schon. Das allein wäre noch kein ausreichender Beweis, um eine Passage als unecht zu erklären.

E. Sie sagen Dinge, die sachlich falsch sind (z. B. 1. Korinther 14:34). Den ursprünglichen inspirierten Schreibern konnten keine dummen Fehler unterlaufen, aber spätere Personen, die falsche Worte einfügten, konnten dies leicht tun.

F. Die Worte spiegeln spätere Dogmen wider, an die damals niemand glaubte (z. B. 1. Johannes 5:7-8). Ein ursprünglicher Autor würde nicht etwas sagen, wofür man eine Zeitmaschine braucht.

G. Wenn du die Wörter weglässt, wird der Text flüssiger oder macht mehr Sinn. Wenn eine Passage verfälscht ist, würde das Entfernen entweder keinen Unterschied machen oder den Text sogar verbessern. Das Entfernen von Originalwörtern könnte den Text zerstören oder verschlechtern (normalerweise, aber nicht immer).

2001Translation, siehe Artikel im Forum

Zusammenfassung

Wir wir an einigen Beispielen nun schon festgestellt haben, wurde der Text der Manuskripte leider auch absichtlich verändert. Zum einen, weil man dachte, dass ein Text am Rand oder zwischen den Zeilen nur vergessen worden war und in Wirklichkeit doch in den ursprünglichen Text gehörte. In einer ganzen Reihe von Fällen wurde der Text aber auch mit Absicht verändert, um eine bestimmte Glaubenslehre zu fördern oder anderen Interpretationen zu verhindern. Und das geschah nachgewiesenermaßen schon ab dem zweiten Jahrhundert. Davor wissen wir einfach nichts. Oft war der Grund, Christen mit anderen Interpretationen des Textes als Herätiker auszugrenzen.

Daher müssen wir in der Aussage aus dem ersten Teil der Serie tatsächlich den ganzen zweiten Teil streichen:

„Die Bibel ist Gottes Wort, die heilige Schrift, vollständig von Gott inspiriert und enthält damit exakt das, was Gott wollte. Sie ist uns genau so bis heute erhalten geblieben, wie die Bibel das selbst sagt, jedes Buch, Absatz, Satz, Wort, Komma und Punkt.“

Selbst wenn wir also – wie ein Übersetzer der 2001 Translation anmerkte – 99,9% des Textes sicher hätten, würde das immer noch bedeuten, dass rund 150 Fehler im Text schlummern. Tatsächlich dürfte es aber schwierig sein, hier eine Schätzung abzugeben. Und was für unsere Fragestellung noch wichtiger ist: In den letzten 2.000 Jahren hatten alle Christen einen viel, viel schlechteren Text mit viel mehr Fehlern. Gott hat den ‚Urtext‘, also die Autographen nicht perfekt bewahrt.

Auf der anderen Seite dürfen wir die Fakten und auch was ich gerade gesagt habe, nicht unverhältnismäßig interpretieren. Die Fakten beweisen, dass die extreme Form der Aussage, nicht gehalten werden kann. Die Fakten zeigen aber auch nicht, dass der Text der christlichen Schriften völlig unzuverlässig ist. Und es geht hier auch gar nicht um eine binäre Aussage: Glaubst du, dass der Text in der Bibel richtig ist oder nicht? Kann man seinen Glauben darauf aufbauen oder sollte man das ganz sein lassen?

Die Fakten liefern uns ein besseres Fundament: Wir können darüber Aussagen machen, wie zuverlässig der Text des Kanons der christlichen Schriften ist. Wir treffen keine pauschale Aussage für den gesamten Kanon, sondern können je nach Text aufgrund der vielen Textzeugen feststellen, ob es Abweichungen gab oder gibt oder ob keine bekannt sind. Machen wir uns Gedanken über einen Bibeltext, sollten wir als allererstes prüfen, wie zuverlässig er überliefert wurde.

Natürlich bleibt eine Lücke von vielen Jahrzehnten oder sogar mehr zwischen den Autographen und frühesten Manuskripten. Welche Änderungen es vielleicht in dieser Zeit gab, können wir nicht direkt überprüfen. Weder ob es kaum welche oder viele gab. Uns bleibt nur übrig, ein paar Überlegungen abzuwägen und das Vertrauen in die Gläubigen der patristischen Zeit und die frühen Kirchenväter, welche die Texte untereinander und mit der mündlichen Überlieferung verglichen. Und den Kanon der christlichen Schriften erstellten, wie wir in der nächste Folge sehen werden.


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