Weizenfeld mit Sonnenuntergang

Der Kanon – Teil 4: Punkt, Komma, Strich – Welchen Unterschied schon ein Absatz machen kann


Von Christian


In den letzten beiden Folgen haben wir schon zwei Teile aus der Behauptung aus dem ersten Teil der Serie gestrichen:

„Die Bibel ist Gottes Wort, die heilige Schrift, vollständig von Gott inspiriert und enthält damit exakt das, was Gott wollte. Sie ist uns genau so bis heute erhalten geblieben, wie die Bibel das selbst sagt, jedes Buch, Absatz, Satz, Wort, Komma und Punkt.“

Weder sichert uns Gott durch das Neue Testament zu, dass die Briefe und anderen Texte unverfälscht erhalten bleiben würden, noch sind alle Briefe im Kanon enthalten. Bedeutet das, dass das Neue Testament in unserer Bibel nutzlos ist? Nein. Das wäre eine falsche, voreilige Schlußfolgerung. Es geht darum, zu erkennen, was Gott uns zugesagt hat und nicht, was wir gerne hätten. Hat Gott nicht sogar vielen Menschen geholfen, die überhaupt keine Schriften hatten? Wie war es denn bei Hennoch, Noah, Melchizedek und Abraham? Wir können dieses Thema also ganz entspannt angehen.

Allerdings beharren einige darauf, dass sogar die Wörter, Sätze, Punkt und Komma genau so sind, wie Gott das möchte. Einige gehen sogar soweit, dass der Text der alten King James Übersetzung inspiriert ist. Nun, das ist noch ein anderes Thema, auf das wir später eingehen werden.

Aber wie ist das mit den Wörtern und Sätzen, Punkt und Komma. Hat Gott diese geformt und in den Geist der Schreiber gegeben? Oder in einer Vision diktiert? Haben diese sich hingesetzt und gedacht: Jetzt schreibe ich ein Bibelbuch? Wie sehen denn die ältesten Kopien der Autographen aus? Schauen wir uns einmal Bilder der ältesten Manuskripte, genauer gesagt Fragmente, an:

𝔓52 ist das älteste bekannte Manuskriptfragment des Neuen Testaments, das einen Teil des Johannes Evangeliums enthält
𝔓1 ist ein Fragment des Matthäus-Evangeliums aus dem frühen dritten Jahrhundert.
𝔓46 ist das früheste (fast) vollständige Manuskript der Paulusbriefe des Neuen Testaments.
𝔓45 ist ein Manuskript der Evangelien und der Apostelgeschichte. Es enthält den frühesten bekannten Text von Markus. Gelehrte finden es wegen seines fragmentarischen Zustands schwer zu lesen.
Der Codex Sinaiticus (ca. 350) enthält die älteste vollständige Abschrift des Neuen Testaments sowie den größten Teil des griechischen Alten Testaments, bekannt als Septuaginta
Der Codex Vaticanus Graecus 1209 ist eine der besten verfügbaren griechischen Handschriften fast der gesamten Bibel.

Einmal abgesehen davon, dass die Buchstaben des griechischen Alphabets verwendet werden. Was fällt sofort auf? Kein Komma, kein Punkt, überhaupt keine Satzzeichen. Schlimmer noch. Nicht einmal Absätze zwischen den Sätzen. Sogar nicht einmal zwischen Wörtern! Schauen wir uns noch einmal 𝔓46 oder die anderen Manuskripte an. Eine Kette von Buchstaben! Wo sind Wörter und Sätze? Die Antwort ist: Die Wörter und Sätze – sowie Aussprache und zum Teil auch Vokale – musste der Leser richtig einsetzen!

Das erinnert mich an ein kurzes Beispiel in Latein, das ich – ich bilde es mir zumindest ein – im Unterricht kennen gelernt habe. Soweit ich mich erinnere, soll angeblich Cäsar diese Nachricht geschickt haben:

Begnadigung Keine Hinrichtung

Drei Wörter. Was bedeuten diese? Es fehlt das Satzzeichen im Deutschen! Aber in Latein gab es das auch nicht. Wie auch im Griechischen. Also was bedeutet es? „Begnadigung keine, Hinrichtung“ oder „Begnadigung, keine Hinrichtung“? Einfach schrecklich, wenn das Leben von einem Komma abhängt. Übertreibe ich jetzt? Nun, betrachten wir einmal zwei verschiedene Übersetzungen der Bibel:

Und er sprach zu ihm: „Wahrlich, ich sage dir heute: Du wirst mit mir im Paradies sein.“

Lukas 23:43 Neue-Welt-Übersetzung

Und er sprach zu ihm: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“

Lukas 23:43 Elberfelder

Das Satzzeichen ‚:‘ gab es im Griechischen nicht. Die Übersetzer haben es eingefügt. In der älteren Ausgabe der Neue-Welt-Übersetzung gab es zumindest noch diese Fußnote: „Wenn auch WH, Nestle-Aland u. UBS im gr. Text ein Komma vor das Wort „heute“ setzen, wurden doch in gr. Unzialhss. keine Kommas verwendet.“ Der Sinn scheint jedoch völlig anders zu sein. Ganz wie im Beispiel, das ich angeführt hatte, und angeblich von Cäsar stammt. Tatsächlich muss man sich bei diesem Text viel mehr Gedanken machen und den Kontext und die Sprache damals anschauen, um den Text besser zu verstehen. Eric Wilson hatte dazu in einem Video auch einmal eine interessante Erklärung.

Tatsache ist: Punkt, Komma, Strich – können wir in der Bibel alles vergessen, weil es das in den Sprachen, in denen die Autographen und Kopien existieren, nicht gab.

Und sogar Absätze und Kapitel- sowie Vers-Einteilungen gab es nicht, wie wir in den Abbildungen gesehen haben. Ist das auch ein Problem? Unsere Kapitel und Verse wurden frühestens mit im 13. Jahrhundert eingeführt (Wikipedia). Zweck war es, den Text in etwa gleich lange Verse und Kapitel einzuteilen. Aber im Deutschen dienen Absätze dazu, einen Gedanken zu trennen. Ein Absatz, oder ein neuer Vers oder gar Kapitel suggerieren uns daher einen neuen Gedanken. Überlege einmal: Wie oft hast du, wenn ein Text zitiert wurde, den Text davor oder gar im Kapitel davor gelesen? Ein Beispiel:

Jesus blickte auf und sah, wie reiche Leute Geld in den Opferkasten warfen. Er sah auch, wie eine arme Witwe ‹zwei kleine Kupfermünzen›, zwei Lepta, hineinsteckte. Da sagte er: “Ich versichere euch, diese arme Witwe hat mehr eingelegt als alle anderen. Denn die anderen haben nur etwas von ihrem Überfluss abgegeben. Sie aber hat alles hergegeben, was sie selbst dringend zum Lebensunterhalt gebraucht hätte.”

Lukas 21:1-3 Neue Evangelistische Übersetzung

Ist das nicht ein schöner Text, der die Opferbeireitschaft der Witwe beschreibt? Aber das ist der Anfang des Kapitels. Wer würde wohl das Kapitel vorher lesen, wenn der Text zitiert wird? Wir tun das jetzt:

Vor dem ganzen versammelten Volk warnte Jesus seine Jünger: “Hütet euch vor den Gesetzeslehrern! Sie zeigen sich gern in ihren langen Gewändern und erwarten, dass man sie auf den Märkten ehrerbietig grüßt. In der Synagoge sitzen sie in der ersten Reihe, und bei Festessen beanspruchen sie die Ehrenplätze. Gleichzeitig aber verschlingen sie den Besitz schutzloser Witwen und sprechen scheinheilig lange Gebete. Darum erwartet sie ein sehr hartes Urteil.”

Lukas 20:45-47 Neue Evangelistische Übersetzung

Das ist der Text direkt davor. In den Manuskripten gibt es keine Kapitel-Einteilung. Wie denkst du jetzt über den Bericht über die arme Witwe in Lukas 21:1-3? Macht ein Absatz oder neues Kapitel hier einen Unterschied? Es gibt noch andere Beispiele, aber die kann jeder auch selbst finden, wenn er ab jetzt aufmerksam ist, und bei jedem Absatzwechsel oder neuem Kapitel auch den Kontext liest.

Fassen wir zusammen, was uns die Fakten gelehrt haben. Es gab in den Sprachen der Autographen und Kopien keine Satzzeichen, Absätze und Verseinteilungen. Damit streichen wir einen weiteren Teil der Behauptung:

„Die Bibel ist Gottes Wort, die heilige Schrift, vollständig von Gott inspiriert und enthält damit exakt das, was Gott wollte. Sie ist uns genau so bis heute erhalten geblieben, wie die Bibel das selbst sagt, jedes Buch, Absatz, Satz, Wort, Komma und Punkt.“

Sollte also jemand mit uns wegen eines Satzzeichens oder Absatzes über die Interpretation des Textes diskutieren wollen, dann sollten wir daran denken, dass diese von den Übersetzern eingefügt wurden. Und uns den Sprachen zuwenden, in denen die überlieferten Manuskripte geschrieben wurden.


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