Von Christian
Im letzten Video haben wir gesehen, dass ‚die Bibel‘ selbst, insbesondere die Bücher des Neuen Testaments, keine Aussage beinhalten, dass sie völlig unversehrt und korrekt über die Jahrtausende bewahrt werden würde. Im Gegenteil: Im ersten Jahrhundert – und noch lange danach, wie wir sehen werden – gab es keinen fertigen, allgemeingültigen Kanon der Schriften. Vielmehr wurden die Gläubigen aufgefordert, mit Hilfe des heiligen Geistes Gottes alle Lehren und Schriften und Briefe zu prüfen, ob sie von Gott stammen. Und immer wieder kommt die Frage auf, wer wann und wie entschieden hat, welche Briefe und Schriften im Kanon der christlichen Schriften enthalten sein sollen.
Ich möchte auch betonen, dass wir bisher nur die Bibel – exegetisch, sola scriptura – verwendet haben und zu diesem Schluß gekommen sind. Und das wird sich in diesem Teil der Serie bestätigen.
Der Ort Laodizea wird vielen Bibellesern als Ort einer frühen Gemeinde bekannt sein. Wird man nach einem Brief an die Gemeinde in Laodizea gefragt, denn denkt man vielleicht sofort an diesen Text:
Der Brief an die Gemeinde in Laodizea
„Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: So spricht, der das Amen ist, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: Ich kenne deine Werke und weiss, dass du weder kalt noch warm bist. Wärst du doch kalt oder warm!“
(Offenbarun 3:14,15 Züricher)
Den Inhalt dieses ‚Briefes‘ kennen wir insofern, als er als ein Teil des Bibelbuchs Offenbarung heute in Bibel abgedruckt ist, ob er nun an die Gemeinde im buchstäblichen Laodizea gerichtet war, oder ob das symbolisch zu verstehen ist.
Tatsächlich ist dies aber nicht der einzige Brief an die Gläubigen in Laodizea, von dem wir wissen:
„Und wenn der Brief bei euch vorgelesen worden ist, sorgt dafür, dass er auch in der Gemeinde von Laodizea vorgelesen wird und dass ihr auch den aus Laodizea lest! [Fn. den aus Laodikia: Dieser Brief ist nicht erhalten.]“
(Kolosser 4:16 Einheitsübersetzung 2016)
Der Brief an die Kolosser ist in der Bibel enthalten, der Brief an die Gemeinde in Laodizea hingegen nicht. Gemäß den ersten Versen in Kolosser schrieb ‚Paulus, Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes‘ den Brief an die Kolosser und damit auch den genannten an die Gemeinde in Laodizea.
Damit ergeben sich einige interessante Fragen:
- Warum ist der Brief an die Gemeinde in Kolossä in der Bibel, die wir heute haben, enthalten und warum der an die Gemeinde in Laodizea nicht?
Vielleicht denkt jemand: „Nun ja, da stand wohl in etwa das gleiche drin. Daher musste nur einer überliefert werden.“
Aber das kann nicht stimmen, sonst hätte Paulus ja nicht geschrieben, dass beide Briefe in beiden Gemeinden vorgelesen werden sollen. Da müsste man sich ja in solche Argumente versteigen, dass dies zur Bestätigung oder Wiederholung der Gedanken gedient hätte. - Was stand also in dem Brief an die Gemeinde in Laodizea, was nicht in dem an die Kolosser stand, weswegen Paulus wollte, dass beide vorgelesen werden?
- Warum kennen wir heute und auch alle anderen aus den letzten etwa 2000 Jahren nur den einen Brief?
- War der eine wichtiger als der andere?
- Hatte Gott oder Jesus für die Bibel nur einen geplant?
- Welche Rolle spielte der heilige Geist und Inspiration bei diesen Briefen?
- Wie kam es überhaupt zur der Zusammenstellung der Briefe, die heute in der Bibel enthalten sind? Also des Kanons des ‚Neuen Testaments‘?
- Gab es noch mehr Briefe?
Zur letzten Frage gibt es schon in den uns erhaltenen Textzeugen Hinweise:
„Lasst euch durch die Behauptung, der Tag des Herrn wäre schon da, nicht so schnell aus der Fassung bringen oder gar in Schrecken versetzen. Glaubt es nicht, auch wenn sich jemand auf eine Geistesoffenbarung, eine angebliche Aussage oder einen Brief von uns beruft.“
(2. Thessalonicher 2:2 NEÜ)
Diesen Text hatten wir schon im letzten Teil behandelt. Schon damals waren also Briefe im Umlauf, die angeblich Aussagen der Apostel enthielten. Warum sonst hätte Paulus dies geschrieben:
„Den Gruß schreibe ich, Paulus, mit eigener Hand. So sieht meine Handschrift aus, das Kennzeichen in jedem meiner Briefe.“ „Seht, mit welch grossen Buchstaben ich euch schreibe, mit eigener Hand!“
(2. Thessalonicher 3:17 NEÜ; Galater 6:11 Züricher)
Briefe spielten eine wichtige Rolle, wie diese Texte zeigen:
„So steht denn nun fest, ihr Brüder, und haltet fest an den Überlieferungen, die ihr gelehrt worden seid, sei es durch ein Wort oder durch einen Brief von uns.“
(2. Thessalonicher 2:15 Schlachter 2000)
Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung der Versammlung in Jerusalem zum Thema Beschneidung:
„Allerdings sollten wir sie in einem Brief dazu auffordern, folgende Dinge zu unterlassen … Der Brief, den sie ihnen mitgaben, lautete folgendermaßen … Paulus und Barnabas sowie die Delegierten wurden offiziell verabschiedet und machten sich auf den Weg nach Antiochia. Dort angekommen, beriefen sie eine Versammlung der ganzen Gemeinde ein und übergaben den Brief.“
(Apostelgeschichte 15:20,23,30 Neue Genfer Übersetzung)
Paulus und Barnabas kamen also nicht nur mit einer mündlichen Erklärung zurück, sondern hatten einen Brief dabei! Den hätte ich auch gerne gelesen. Aber er ist nicht Teil des Kanons geworden, obwohl er doch so wichtig war! Es gab also eine Menge Briefe, aber nur wenige sind Teil des Kanons. Neben dem Brief an die Gemeinde in Laodizea fehlt uns zum Beispiel auch dieser:
„In meinem früheren Brief [Fn. Dieser Brief ist uns nicht erhalten.] habe ich euch vor dem Umgang mit Menschen gewarnt, die ein unmoralisches Leben führen. .. Darum schreibe ich euch jetzt noch einmal unmissverständlich:“
(1. Korinther 5:9, 11 Neue Genfer Übersetzung)
Da dieser Brief in der Bibel als erster Korinther Brief bezeichnet wird, fehlt uns der vorangegangene. Also ist der 1. Korinther Brief eigentlich schon der 2. Korinther Brief, und der 2. der 3. Brief. Mindestens.
Doch nicht nur die Apostel oder die Gemeinde in Jerusalem schrieben Briefe:
„Nun zu der Ansicht, die ihr in eurem Brief vertretet, dass es für einen Mann gut sei, keine Frau zu berühren.“
(1. Korinther 7:1 Züricher)
Die Gemeinden schrieben also auch welche. Und welchen Stellenwert sollten die Briefe für die Gemeinden haben?
„Ich beschwöre euch beim Herrn, diesen Brief allen in der Gemeinde vorzulesen.“
(1. Thessalonicher 5:27; 2. Thessalonicher 3:14 Züricher)
„Wenn aber einer dem nicht nachkommt, was in diesem Brief steht, so merkt ihn euch und meidet den Umgang mit ihm, damit er beschämt werde.“
Ziel war oft, die Geschwister zu erbauen oder auch ermahnen:
„Das ist bereits mein zweiter Brief an euch, liebe Geschwister. Durch beide wollte ich euch ‹an längst Bekanntes› erinnern, dass eure gute Gesinnung erwacht.“
(2. Petrus 3:1 NEÜ)
„Liebe Geschwister, ich hatte schon lange vor, euch über unsere gemeinsame Rettung zu schreiben, sah mich aber jetzt genötigt, euch mit diesem Brief zu ermahnen. Kämpft für den Glauben, der allen, die Gott gehören, ein für alle Mal übergeben worden ist!“
(Judas 3 NEÜ)
Es gab also viele Briefe für die Gemeinden im ersten Jahrhundert, welche auch als sehr wichtig betrachtet wurden. Warum sind nicht alle erhalten geblieben?
An dieser Stelle müssen wir den historischen Kontext berücksichtigen. Zuerst gab es ja jeweils nur ein Original eines Briefes, den sogenannten Autographen. Dieser sollte vorgelesen werden. Schon daraus lässt sich schließen, dass nur wenige in der Gemeinde Lesen und Schreiben konnten. Das Original des Briefes konnte in der selben Gemeinde immer wieder vorgelesen werden. Aber was war mit den anderen? Ab wann wurden Kopien angefertigt und weitergegeben? Wer tat das und zu welchem Zweck?
Wie sich zeigt, war die mündliche Überlieferung zuerst noch wichtiger als eine schriftliche. Das ist auch nur zu verständlich. Wenn ich einen Apostel direkt fragen kann ist mir das wichtiger, als ein Papyrus, der angeblich von Apostel Soundso stammt. Es ging um Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit. Und Kopien wurden auch nicht mit der Absicht erstellt, eine Bibel zusammenzustellen. Auf beides wird in folgenden Artikeln noch eingegangen werden.
Halten wir aber fest: Es gibt verschiedene Erklärungsansätze, warum wir keinen Laodizenerbrief kennen (siehe Wikipedia Laodizenerbrief). Über den Brief des Paulus an die Korinther vor seinem Brief, den wir heute ersten nennen, wissen wir allderings überhaupt nichts. Wenn Gott und Jesus als Haupt der Versammlung die Überlieferung der Briefe ganz konkret geplant und alles genau geleitet haben, dann würde das ja Folgendes bedeuten:
- Jesus wollte, das Paulus mindestens zwei Briefe schrieb, von denen wir aus anderen Briefen wissen, dass sie existierten. Aber diese sollten nicht erhalten bleiben.
- Haben also Gott und Jesus diese anderen Briefe also nicht weiter beachtet oder bewusst deren Überlieferung verhindert?
- Aber wie hätte Jesus das erreicht? Die Briefe verschwanden ja nicht über Nacht.
- Wie hätte er Menschen beeinflußt, dass gewisse Briefe weiter kopiert wurden und andere nicht?
- Kann man beweisen, dass wir alle notwendigen Briefe heute kennen, die Bibel aber keinen Brief enthält, vor dem damals gewarnt wurde?
Ist es nicht interessant, dass schon alleine durch diese wenigen Hinweise aus dem überlieferten Text sich durch etwas Nachdenken interessante Frage ergeben, die unsere Auffassung von dem, was ‚die Bibel‘ ist, berühren?
Was wir aber rein aus dem Text der heutigen ‚Bibel‘ festhalten können, ist dies:
- Es gab Briefe, die erwähnt werden und so wichtig waren, dass die in anderen Versammlungen vorgelesen werden sollten.
- Es gab Briefe, die an Versammlungen geschickt wurden, auch vorgelesen werden sollten, von denen wir aber überhaupt nichts wissen.
- Und diese Briefe sind trotzdem nicht Teil unserer ‚Bibel‘, also des Kanon des Neuen Testaments, geworden.
Wenn jemand nun sagt, dass Gott, unser Vater, und Jesus, unser Herr, die Entstehung der Bibel genauestens überwacht haben, dann bedeutet das, dass sie diese damals wichtigen Briefe bewußt aussortiert haben.
Betrachten wir auch am Ende dieses Teils die Behauptung aus dem ersten Teil dieser Serie. Halten alle Teile dieses Satzes den Fakten stand?
„Die Bibel ist Gottes Wort, die heilige Schrift, vollständig von Gott inspiriert und enthält damit exakt das, was Gott wollte. Sie ist uns genau so bis heute erhalten geblieben,
wie die Bibel das selbst sagt,jedes Buch, Absatz, Satz, Wort, Komma und Punkt.“
Ich bin jetzt etwas streng gewesen, und habe den Teil ‚jedes Buch‘ auch gestrichen. Warum? Wenn jemand meint, dass jeder Brief eines Apostels auch in der Bibel zu finden ist, dann stimmt das nicht. Und dazu braucht man nur die überlieferten Briefe selbst zu lesen. Das Neue Testament enthält nicht alle Briefe, deren Existenz uns bekannt ist, und die Frage bleibt offen, warum das so ist. Sie könnten ja auch einst im Kanon enthalten gewesen und später dann wieder aus dem Kanon herausgenommen worden sein. Wir werden sehen.
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