Von Christian
Im ersten Teil dieser Serie ist es uns schon bewußt geworden, dass es einige wichtige und interessante Fragen zur ‚Bibel‘ gibt. Bevor wir aber historische Fakten oder anderes betrachten, lassen wir zuerst einmal den Text ‚der Bibel‘ selbst sprechen. Was erfahren aus dem Text selbst darüber, was die Bibel ausmacht, wie sie entstand und was in den Jahrhunderten nach ihrer Entstehung geschehen sollte? Beginnen wir mit einem Hinweis im zweiten Brief an die Thessalonicher:
Wir bitten euch aber, ihr Brüder, wegen der Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus und unserer Vereinigung mit ihm: Lasst euch nicht so schnell in eurem Verständnis erschüttern oder gar in Schrecken jagen, weder durch einen Geist noch durch ein Wort noch durch einen angeblich von uns stammenden Brief, als wäre der Tag des Christus schon da.
2. Thessalonicher 2:1,2 Schlachter 2000
Gemäß der traditionellen Sicht wurde dieser Brief von Paulus etwa um das Jahr 50 n. Chr. geschrieben. Die Formulierung „noch durch einen angeblich von uns stammenden Brief“ wirft eine Frage auf: Konnten die Gläubigen in Thessalonich nicht einfach in ‚ihre Bibel‘ schauen und prüfen, ob der Text als Brief enthalten war? Offensichtlich nicht. Das, was wir heute als Bibel bezeichnen, war zwei Jahrzehnte nach dem Tod Jesu gerade erst in der Entstehung. Es gab noch keinen Kanon der christlichen Schriften. Zu dieser Zeit konnte also jemand zu der Versammlung mit einem Brief kommen und behaupten, dass er zum Beispiel von Paulus sei. Wie konnte man nun überprüfen, ob das nun ein Teil ‚der Bibel‘ sein sollte oder nicht? Diese Frage stellte sich überhaupt nicht. Nun gut, war die Frage dann, ob er ‚echt‘ war? Auch nicht unbedingt. Der entscheidende Punkt war dieser:
Wer Gottes Gebote befolgt, bleibt in Gemeinschaft mit Gott, und Gott lebt in ihm. Dass er wirklich in uns bleibt, erkennen wir durch den Heiligen Geist, den er uns gegeben hat. Ihr Lieben, glaubt nicht jedem, der behauptet, er sei mit Gottes Geist erfüllt, sondern prüft, ob er wirklich von Gott kommt. Denn überall sind falsche Propheten unterwegs. Den Geist Gottes erkennt ihr daran, dass er deutlich macht: Jesus Christus kam als wirklicher Mensch in unsere Welt.
1. Johannes 3:24 – 4:2 Neue Evangelistische Übersetzung
Tatsache ist: Es gab schon im ersten Jahrhundert viele mündlich überlieferte Berichte, viele Briefe und weitere Texte, wie schon dieser Vers zeigt. Es bestand die Notwendigkeit, zu prüfen, was da so im Umlauf war. Die entscheidene Frage war: Kommt das von Gott? Und das ist die Frage, die wir uns heute auch stellen müssen: Kommt das, was wir heute in ‚der Bibel’ lesen so von Gott? Denn wie wir schon in der letzten Folge gesehen haben, liegen viele Schritte zwischen der Entstehung der Text und dem, was wir in unserer Sprache heute lesen können.
Schon dieser Vers zeigt uns aber auch, dass es noch am Ende des ersten Jahrhunderts keinen abgeschlossenen Kanon der christlichen Schriften gegeben haben kann, in dem Sinne, dass ausschließlich diese Texte als von Gott kommend akzeptiert wurden. Und alles andere als Texte von Irrlehrern und ‚Abtrünnigen‘ gemieden werden sollte. Im Gegenteil! Die Texte sollten geprüft werden, was das Lesen bzw. Vorlesen und einen Vergleich mit den anderen Schriften notwendig machte. Dabei half sogar der heilige Geist:
Der Geist ermächtigt den Einen, Wunder zu wirken; einen Anderen lässt er Weisungen Gottes verkündigen. Ein Dritter erhält die Fähigkeit zu unterscheiden, was vom Geist Gottes kommt und was nicht. Einer wird befähigt, in nicht gelernten fremden Sprachen zu reden, und ein Anderer, sie zu übersetzen.
1. Korinther 12:10 Neue Evangelistische Übersetzung
Vergleichen wir das mit der Aussage: Gott hat die Niederschrift der Bibel genau überwacht und dafür gesorgt, dass sie uns ganz genau erhalten geblieben ist. Was bedeutet das ganz konkret im ersten Jahrhundert? Versetzen wir uns in die Lage eines Gläubigen, zum Beispiel in Thessalonich, der gerade hört, wie ein Brief in der Gemeinde vorgelesen wird. Könntest du dir als dieser Gläubige einfach sagen: Das ist Gottes Wort, denn er überwacht die Aufzeichnung der Bibel genau? Nein, sonst wäre die Aufforderung zu prüfen nicht nötig gewesen. Wenn es also so eine Gewissheit überhaupt gibt, müsste sie erst später entstanden sein. Aber wie und durch wen?
Gibt es irgendeinen Bibeltext, der den Gedanken unterstützt, dass Gott die Aufzeichnung der Bibel so überwachen würde, dass wir nicht mehr prüfen müssten? Vielleicht kommt dir dieser Bibeltext in den Sinn.
Alle Schrift ist von Gott eingegeben [w. »gottgehaucht« (gr. theopneustos), d. h. von Gott durch den Geist eingegeben, von Gott inspiriert.] und nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, zu jedem guten Werk völlig ausgerüstet.
2. Timotheus 3:16,17 Schlachter 2000
In Übereinstimmung mit dem griechischen Text wurde hier der Singular verwendet: Alle Schrift ist … Dieser Text könnte dir insbesondere dann eingefallen sein, wenn du diese – etwas suggestive – Übersetzung gelesen hast:
Die ganze heilige Schrift ist von Gott eingegeben [Fn. o. inspiriert] …
2. Timotheus 3:16 Die Bibel. Neue-Welt-Übersetzung 2018
Wird man als Leser – in diesem Fall also meist Zeugen Jehovas – nicht automatisch denken, dass hier ‚die Bibel‘ gemeint ist? Interessanterweise ist der Titel der aktuellen Übersetzung der Zeugen Jehovas, in der 2. Timotheus 3:16 so übersetzt ist: Die Bibel. Neue-Welt-Übersetzung. Die Ausgaben davor hatten allerdings den Titel Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift. 2. Timotheus 3:16 wurde darin allerdings so wiedergegeben: „Die ganze Schrift ist von Gott inspiriert ….“ Also ohne den Zusatz heilig und im Singular. Der Titel der englischen Ausgabe lautet immer noch New World Translation of the Holy Scriptures, also Neue Welt Übersetzung der Heiligen Schriften (Plural), und gibt den Text wie in der King James Version wieder: „All Scripture is inspired of God …“ Während der Titel der Bibel den Plural enthält, steht im Text der Singular: Alle Schrift ist von Gott inspiriert. Das soll noch einer verstehen …
Doch ist das nicht schon ein gutes Beispiel, dass wir eben nicht genau wissen, ob das, was wir in ‚unserer Bibel‘ lesen, „von Gott kommt“ (1. Joh. 4:2)? Wenn doch verschiedene Übersetzungen hier unterschiedliche Gedanken wiedergeben. Prüfen wir also wie die Christen im ersten Jahrhundert.
Zuerst einmal müssen wir uns fragen, was hier mit ‚alle Schrift ist von Gott eingegeben‘ πᾶσα γραφὴ θεόπνευστος gemeint ist. Bezog sich der Autor des zweiten Timotheus Briefs auf die Schriften der jüdischen Bibel, die Jahrhunderte vorher vollendet worden war? Und was ist mit den Schriften, die später noch kommen sollten, von denen also noch niemand wusste? Wenn ja, dann bringt uns das zur Frage des Kanons: Was gehört als ‚inspirierte Schrift‘ in den Kanon der christlichen Schriften und was nicht? Wer entschied das? Nach welchen Kriterien? Hatte Gott schon lange einen Plan, quasi die Bücherliste der Bibel, die noch zu schreiben wären? Was ist also mit ‚alle Schrift‘ oder ‚die ganze Schrift‘ gemeint? Wer legt das fest, was zu Alles gehört? Und woher könnten wir das wissen? Diese Fragen werden eben nicht durch den Kanon beantwortet, sondern sind einer der Gründe für die Erstellung des Kanons – was Jahrzehnte bis Jahrhunderte dauerte und – du wirst überrascht sein – bis heute nicht unbedingt abgeschlossen sein muss.
Was die Autoren im ersten Jahrhundert mit ‚Schrift‘ meinten, wird in Texten wie diesem klar:
Denn ich habe euch vor allem überliefert, was ich auch empfangen habe: dass Christus für unsere Sünden gestorben ist nach den Schriften; und dass er begraben wurde und dass er auferweckt worden ist am dritten Tag nach den Schriften;
1. Korinther 15:3-4 Elberfelder.
Wenn Paulus davon spricht, dass er etwas überliefert hat, was er auch empfangen hat, dann meint er mit ‚Schriften‘ wohl kaum seine eigenen oder die anderer im Neuen Testament – die zu diesem Zeitpunkt ja oft noch gar nicht geschrieben waren. Er argumentiert, dass seine Botschaft ja schon im Alten Testament stand.
Vielleicht ist dir auch dieser Text eingefallen.
Vor allem aber müsst ihr wissen, dass keine prophetische Aussage der Schrift aus einer eigenen Deutung stammt. [Entweder ist gemeint: aus einer eigenen Deutung (Erfindung) des Propheten, oder: eine eigene (eigenwillige) Deutung zulässt.] Denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil der betreffende Mensch das wollte. Diese Menschen wurden vielmehr vom Heiligen Geist gedrängt, das zu sagen, was Gott ihnen aufgetragen hatte.
2. Petrus 1:20,21 Neue Evangelistische Übersetzung
Was ist hier mit ‚der Schrift‘ γραφῆς gemeint? Und übersehen wir auch nicht den konkreten Bezug auf ‚prophetische Aussagen‘. Wenn wir davon ausgehen, dass Petrus den zweiten Petrus Brief geschrieben hat, können wir diesen es selbst erklären lassen:
An einem dieser Tage erhob sich Petrus im Kreis der Brüder – etwa 120 waren zusammengekommen – und sagte: “Ihr Männer, meine Brüder! Was in der Schrift steht, musste sich erfüllen; es musste so kommen, wie es der Heilige Geist schon durch David über Judas vorausgesagt hat. Er wurde ein Führer für die, die Jesus festnahmen, …
Apostelgeschichte 1:15,16 Neue Evangelistische Übersetzung
Dieses Aussage des Petrus hat auch Paulus im Brief an die Römer bestätigt:
Denn aus allem, was früher aufgeschrieben wurde, sollen wir lernen. Die heiligen Schriften geben uns Trost und ermutigen zum Durchhalten, bis sich unsere Hoffnung erfüllt.
Römer 15:4 Neue Evangelistische Übersetzung
Für Petrus und Paulus waren ‚die heiligen Schriften‘ also der Text der jüdischen Bibel. Aber sagte nicht sogar Jesus, dass wenigstens diese nicht vergehen würden?
Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist.
Matthäus 5:18 Elberfelder
Auch diesen Text muss man genau lesen. Weder geht es hier um die ganze jüdische Bibel noch den Text an sich. Es geht um DAS GESETZ (nomou νόμου) und nicht die Schriften, und um die Erfüllung dessen, was darin gesagt wird.
Übrigens ist auch 1. Petrus 1:24, 25, wo Petrus Jesaja 40:8 zitiert, keine Zusage, dass der Text der Bibel bestehen bleibt:
Denn »alles Fleisch ist wie Gras und alle seine Herrlichkeit wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt, und die Blume ist abgefallen; aber das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit.« Dies aber ist das Wort, das euch als Evangelium verkündigt worden ist.
Das Gras ist verdorrt, die Blume ist verwelkt. Aber das Wort unseres Gottes besteht in Ewigkeit.
1. Petrus 1:24, 25; Jesaja 40:8 Elberfelder Bibel
Hier erklärt also Petrus selbst wieder, was gemeint ist. Auch wenn dieser Text als einziger im Wachtturm (2017 September S. 18-22) zitiert wird, um zu beweisen, dass „Gott uns zugesichert hat, dass es bewahrt wird“, wie es am Ende des ganzen Artikels ohne weitere Begründung heisst. Zumindest wird am Anfang bei Verwendung von 1. Petrus 1:24, 25 zugegeben: „Wenn sich dieser Vers auch nicht ausdrücklich auf die Bibel bezieht, treffen die inspirierten Worte doch auf ihre Botschaft zu.“ Trotzdem wird gerade dieser Vers als einziger immer wieder in der Literatur der Wachtturm-Organisation zu diesem Thema zitiert. Auf die selbe Weise: Aus dem Kontext gerissen und im Zitat mit dem Buch der Bibel verknüpft.
Der Text in 2. Petrus 1:21, den wir schon betrachtet haben, geht übrigens noch weiter. Das Kapitel endet zwar hier – aber die Kapiteleinteilung kam erst über eintausend Jahre später. Auch darüber werden wir in dieser Serie noch zu sprechen haben. Also lesen wir einfach einmal weiter:
Doch es gab in Israel auch falsche Propheten, so wie es unter euch falsche Lehrer geben wird. Die schleusen dann schädliche Sonderlehren heimlich ein. Damit verleugnen sie den Herrn, der sie doch freigekauft hat, und ziehen sich selbst ein schnelles Verderben zu.
2. Petrus 2:1 Neue Evangelistische Übersetzung
Und diese Lehrer brachten auch ihre Schriften hervor. Das war also die Situation, in welcher der Text ‚der Bibel‘ entstand und bewahrt werden musste. Bestand denn die Gefahr, dass auch Texte nicht nur anders interpretiert sondern auch verändert wurden? Anscheinend schon:
Ich bezeuge es jedem, der die Worte der Weissagung, die in diesem Buch aufgeschrieben sind, hört: Wer ihnen etwas hinzufügt, dem wird Gott die Plagen zufügen, die in diesem Buch aufgeschrieben sind. Und wer etwas wegnimmt von den Worten dieses Buches der Weissagung, dessen Anteil wird Gott wegnehmen vom Baum des Lebens und von der heiligen Stadt, von denen in diesem Buch geschrieben ist.
Offenbarung 22:18, 19 Züricher
Mancher bezeichnet die Bibel auch als ‚das Wort Gottes‘ oder ‚Gottes Wort‘. Wird nicht wenigstens davon gesagt, dass es bleibt?
Und wir danken Gott weiterhin, denn als ihr das Wort Gottes, das ihr von uns gehört habt, angenommen habt, habt ihr es nicht als Menschenwort angenommen, sondern so, wie es wahrhaftig ist… Das Wort Gottes – das in euch Gläubigen wirkt!
1. Thessalonicher 2:13 2001 Translation (ins Deutsche übersetzt)
Zuerst einmal ist interessant, dass gesagt wird, dass sie das ‚Wort Gottes‘ gehört haben – nicht gelesen. Und dann angenommen. Und dann wirkte es in den Gläubigen. In diesem Text ist also auch kein Buch gemeint.
Gibt es also irgend einen Bibeltext, der die Behauptung unterstützt, dass Gott und Jesus die Entstehung und Überlieferung ‚der Bibel‘ so geleitet hat, dass sie uns ganz genau und unverfälscht zur Verfügung stehen sollte? Hast du irgendwo in den Evangelien gelesen, dass Jesus seine Jünger beauftragt hat, seine Worte aufzuschreiben? Ich habe keinen im Neuen Testament gefunden. Aber vielleicht kann mich ja jemand in einem Kommentar darauf hinweisen. Wenn es keine solchen Texte gibt, sollten wir das aber auch nicht über die Bibel oder Gott oder Jesus behaupten und sie dazu verpflichten. Sonst könnten sie eines Tages uns vielleicht fragen: Warum sagst du so etwas? Warum beklagst du dich, dass es nicht so gewesen ist? Wo habe ich dir das denn jemals zugesagt?
Die Gläubigen im ersten Jahrhundert wurden wiederholt darauf hingewiesen wurden, dass sie alles prüfen sollten, ob es von Gott stammt. Sie konnten nicht einfach ‚ihre Bibel‘ holen und hätten damit einen perfekten, zuverlässigen Text gehabt, der nur ganz genau das enthielt, was Gott für sie hatte aufschreiben lassen.
Andererseits haben wir gesehen, dass Petrus und Paulus unter ‚Schriften‘ den Text der jüdischen Bibel verstanden. Und dieser Text noch gut genug überliefert war, so dass daraus zitiert wurde um damit das Evangelium zu verkünden.
Kommen wir nochmals auf die Aussage zur Bibel zurück, über die wir im ersten Teil dieser Serie gesprochen haben. Dort müssen wir einen ersten Satzteil streichen:
„Die Bibel ist Gottes Wort, die heilige Schrift, vollständig von Gott inspiriert und enthält damit exakt das, was Gott wollte. Sie ist uns genau so bis heute erhalten geblieben,
wie die Bibel das selbst sagt, jedes Buch, Absatz, Satz, Wort, Komma und Punkt.“
Jetzt keine Panik deswegen bekommen. Wir werden im Laufe der Serie noch andere Aussagen betrachten, die nur einen trügerischen Halt bieten. Und diese durch solide Aussagen ersetzen. Die Schriften enthalten nämlich durchaus ein paar interessante Aussagen über sich selbst, wie wir im nächsten Teil sehen werden.
Eine Antwort zu “Der Kanon – Teil 2: Was sagt ‚die Bibel‘ über sich selbst?”
[…] des Neuen Testaments (Video Der Kanon – Teil 2: Was sagt ‚die Bibel‘ über sich selbst?, Artikel Der Kanon – Teil 2: Was sagt ‚die Bibel‘ über sich selbst?) hatte ich zum Schluß […]
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