Weizenfeld mit Sonnenuntergang

Der Kanon des Neuen Testaments – Teil 16: Der Zeitpunkt der Entstehung der Schriften


Von Christian


Wann sind deines Wissens nach die Schriften im Kanon des Neuen Testaments entstanden? Oder etwas konkreter: Welcher Teil des Kanons des Neuen Testaments wurde zuerst geschrieben und welches war es? Das ist jetzt nicht nur eine akademische Frage oder eine Quiz-Frage. Die Antwort auf diese Frage hat eine größere Bedeutung als man vielleicht denkt. Sie ist wichtig für die richtige Einordnung in den historischen Kontext. Und auch in die zeitliche Entwicklung des Glaubens und Lebens der ersten Nachfolger Jesu, der verschiedenen Strömungen die dann kamen und wichtige historische Entwicklungen. Denken wir zum Beispiel an die Zerstörung Jerusalems, die Bekehrung der Heiden oder den Tod der Apostel und der Generation, die Jesus noch selbst kennengelernt hatten – und auch, dass sich die Hoffnung auf eine Wiederkehr Christi noch zu ihren Lebzeiten nicht erfüllt hatte.

Die Schriften sind in der Regel so im Kanon des Neuen Testaments angeordnet:

Aufgrund der Anordnung im Kanon haben wir vielleicht diese zeitliche Abfolge im Sinn:

Möglicherweise bist du aber auch der Meinung, dass der Apostel Johannes das Evangelium zusammen mit den Briefen und der Offenbarung am Ende des ersten Jahrhundert geschrieben hast.

Diese Darstellung würde aber immer noch einen Fehler enthalten, denn die Apostelgeschichte – also Geschichte der Taten der Apostel – kann ja erst geschrieben worden sein, nachdem die Apostel diese Taten vollbracht hatten. Also vielleicht dann doch eher so?

Aber warum herumrätseln! Nehmen wir doch einfach die Daten der Niederschrift und schon ist alles klar. Und da haben wir das Problem: Wir kennen die Daten nicht! „Doch! Natürlich kennen wir sie!“ höre ich da schon die Gegenstimmen. Also gehen wir einmal daran – wie bisher auch – die Fakten zu prüfen.

Betrachten wir zuerst einmal die im Neuen Testament enthaltenen vier Evangelien. Deren Entstehungszeit können wir zumindest eingrenzen:

Die Entstehungszeit der neutestamentlichen Evangelien liegt zwischen 30 oder 33 n. Chr. (dem Jahr der Kreuzigung Jesu) und ungefähr 120 n. Chr. (Belege des frühen 2. Jahrhunderts: Der Papyrus 52 ({\mathfrak {P}}52, ein Fragment des Johannesevangeliums aus der Zeit Kaiser Hadrians und Kirchenväter-Zitate).

Wikipedia Evangelium (Literaturgattung)

Nebenbei bemerkt, verwende ich hier öfters die Wikipedia, weil diese für jeden leicht und kostenlos zugänglich ist und ein guter Ausgangspunkt für das eigene Studium ist.

Damit ergibt sich dieses Bild.

Geht das nicht etwas genauer? Leider nur etwas besser, denn es gibt schlicht und ergreifend keine verlässlichen, präzisen Angaben. Damals gab es keine Veröffentlichung mit ISBN Nummer, Jahreszahl, Autor und Eintrag in nationale Register oder große Bibliotheken. Warum sollten die ersten Nachfolger Jesu das auch tun. Sie hatten keinen Auftrag, etwas aufzuschreiben und es gab ja auch noch genügend Augenzeugen, die am Leben waren.

Trotzdem finden sich in Bibeln auch Zeitangaben, die mit dieser Einschätzung übereinstimmen und ziemlich präzise sind. Zum Beispiel diese aus der Schlachter Bibel (2000):

Diese Liste sieht ja sehr aufgeräumt und präzise aus. Das wird noch deutlicher, wenn man es grafisch darstellt. Aber zuerst noch einmal die Quiz-Frage: Welcher Text des Kanons des Neuen Testaments wurde zuerst geschrieben? Und wann? Vielleicht denkst du jetzt an die Evangelien? Klar doch, zuerst wurde aufgeschrieben, was Jesus so getan hat, oder? Und welcher Teil wurde wann als letztes geschrieben? Klar, das muss ja die Offenbarung sein. Nun, schauen wir einmal:

Vielleicht warst du ja überrascht, in dieser Liste den Jakobus-Brief zuerst zu finden. Und dann den Brief von Paulus an die Galater. Und dann erst die Evangelien Matthäus und Markus – aber zur gleichen Zeit? Warum denn das? Hätte ein Bericht nicht gereicht? Und dann kommen erst einmal die anderen Briefe des Paulus. Alles geschrieben, bis 70 n.Chr. Jerusalem zerstört wurde. Aber immerhin: Schließlich schreibt gegen Ende des Jahrhunderts der Apostel Johannes seine Briefe, das Evangelium und die Offenbarung.

Aber die Frage bleibt, woher diese unglaublich präzisen Zeitangaben stammen, da sich das aus dem Text selbst nicht ermitteln lässt.

Betrachten wir zum Beispiel die Evangelien. Zu welchem Schluß kamen denn die Gelehrten, welche versucht haben, aufgrund der Fakten die Entstehungszeit der Evanglien zu bestimmen? Die folgende Darstellung beruht auf dem Artikel Evangelium (Literaturgattung) in der Wikipedia:

Keine dieser Einschätzungen entspricht der in der Schlachter Bibel! Beruhen denn die völlig verschiedenen zeitlichen Einordnungen auf der Kenntnis verschiedener historischer Fakten? Im Wesentlichen nicht. Was eine große Rolle spielt, ist zum Beispiel die Frage, ob die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 prophetisch vorhergesagt wurde, oder nachträglich es so im Text dargestellt wurde. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Ähnlichkeit der synoptischen Evangelien nicht nur in den Berichten sondern auch im Text ganzer Sätze und Passagen. Dazu gibt es verschiedene Theorien. Zum Beispiel, dass das Markus-Evangelium die Grundlage für Matthäus und Lukas bildete, oder welche Rolle eine noch frühere Vorlage diente, die leider nicht erhalten wurde. Darüber sprechen wir im nächsten Teil der Serie.

Und wie steht es mit den Briefen, die Paulus zugeschrieben wurden oder werden? (Quelle: Wikipedia Paulusbriefe)

Das passt schon besser. Und tatsächlich kann man für die Briefe, die mit großer Wahrscheinlichkeit wirklich von Paulus sind, die Zeit der Niederschrift aufgrund der Fakten besser eingrenzen. Zumindest besser als bei allen anderen Teilen des Kanons des neuen Testaments. Aber selbst bei diesen Briefen muss Folgendes gesagt werden:

Die Paulusbriefe nennen die Orte ihrer Abfassung nicht und geben auch kaum Hinweise auf die Zeit ihrer Abfassung.

Wikipedia: Paulus von Tarsus

Wie man sieht, gibt es, insbesondere bei den Briefen, bei denen Paulus als Verfasser in Frage gestellt werden muss, zum Teil erheblich unterschiedliche Angaben. In diesen Fällen habe ich die verschiedenen Angaben alle eingetragen.

Falls du zum Beispiel überrascht bist, dass der Hebräer-Brief nicht von Paulus sein soll: Er wurde in den ältesten Handschriften wie Codex Vaticanus und Codex Sinaiticus den Paulusbriefen zugeordnet. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass diese Codices erst aus dem 4. Jahrhundert stamment. Dem christlichen Gelehrten Origines, der schon Anfang des 3. Jahrhunderts lehrte, fiel allerdings schon ein erheblicher Unterschied auf:

Origines ging wegen des für Paulus unüblichen Stiles (so etwa ein Wortschatz von 1000 verschiedenen Wörtern bei 3000 Wörtern Umfang gegenüber dem eher beschränkten des Paulus) davon aus, dass der Inhalt des Briefes zwar paulinisch, der Verfasser aber unklar sei.

Wikipedia: Brief an die Hebräer

Außerdem passt die Aussage in Hebräer 2:3 nicht so recht zu Aussage des Paulus, dass er das Evangelium direkt von Jesus erhalten hätte.

Würden wir aber trotzdem annehmen wollen, dass der Hebräer Brief von Paulus ist, müssen wir also diesen Widerspruch irgendwie erklären. Und die Beobachtung des Origines und späterer Gelehrter erklären. Und erklären, warum Paulus in verschiedenen Briefen einen unterschiedlichen Wortschatz und Ausdrucksweise verwendet – und das ist auch getan worden. Zum Beispiel wird das darauf zurückgeführt, dass der Brief diktiert wurde und der Schreiber einen anderen Wortschatz hatte. Das passt nun aber gar nicht zu dem Gedanken der Verbal-Inspiration. Denn dann hätte Gott entweder in Briefen ‚des Paulus‘ seine Gedanken mit verschiedenen Wortschätzen und Ausdrucksweisen wörtlich inspiriert. Oder er hätte außer Paulus auch noch den Schreiber mit einem anderen Wortschatz inspiriert. Oder … das ist irgendwie merkwürdig kompliziert, denkst du nicht auch?

Kommen wir noch zur Apostelgeschichte, den anderen Briefen und der Offenbarung (des Johannes):

„Die historisch-kritische Bibelforschung nimmt in ihrer großen Mehrheit die Jahre um 90 n. Chr. als Zeit der Entstehung der Apostelgeschichte an. … Evangelikale Ausleger verteidigen dagegen in der Regel eine Frühdatierung der Apostelgeschichte in die Jahre 62–65 n. Chr.“ (Wikipedia)

Bei 1. und 2. Petrus wird diskutiert, ob dieser Brief tatsächlich von Petrus geschrieben worden sein kann. Damit muss die Niederschrift entweder vor dem Tod des Petrus im Jahr 64 angenommen werden oder sehr viel später. Ich würde sagen, dass man hier in Bezug auf den Zeitpunkt ziemlich im Dunkeln tappt.

Beim Jakobus-Brief kann man auch keine klar Aussage treffen: „Weil der Text selbst nur sehr wenige verwertbare Angaben enthält, sind Verfasserschaft und Entstehungszeit innerhalb der Bibelwissenschaft umstritten. Vor allem zwei Auffassungen werden vertreten“ (Wikipedia) Und so habe ich die ganz frühe Datierung vor dem sogenannten Konzil in Jerusalem sowie einen Zeitpunkt vor dem mutmaßlichen Tod des Jakobus oder eine sehr später Datierung eingetragen.

Noch deutlicher wird das beim kurzen Judas Brief: “Weder die Entstehungszeit noch die Empfänger des Judasbriefes sind sicher feststellbar.“ (Wikipedia)

Und so ähnlich ist dies auch bei den drei Johannes-Briefen: „Die Meinungen über die Abfassungszeit der drei Johannesbriefe erstrecken sich über einen Zeitraum von ungefähr 50 bis 110 n. Chr.; manche Theologen verzichten ganz auf einen Datierungsversuch“ (Wikipedia)

Für die Offenbarung des Johannes wurde als Entstehungszeit lange das Jahr 68 oder 69 als plausibel vermutet, heute eher um das Jahr 95 n.Chr. (Wikipedia)

Die Antwort auf die Frage „Wann sind die Schriften im Kanon des Neuen Testaments entstanden?“ kann also nicht so einfach und sicher beantwortet werden, wie wir uns das wohl gewünscht hätten. Macht sie das nun per se unglaubwürdig? Für die ersten Nachfolger Jesu und die ersten Christen spielte das eher keine Rolle. War es die Frage, ob der Verfasser ein Apostel war? Wir haben das Thema hier nur gestreift. Aber beim Teil der Serie über den Kanon ist klar geworden, dass dies auch nicht unbedingt ausschlaggebend war. Eine Schrift eines Apostels, eines anderen Augenzeugen oder von jemandem, der diese noch kannte, wurde natürlich höher eingeschätzt. Aber später war es meistens gar nicht so einfach, festzustellen, wer denn wirklich der Verfasser einer Schrift war. Entscheidend war daher mehr die Qualität des Inhalts.

Was die zeitliche Einordnung betrifft, müssen daher oft geschichtliche Ereignisse in Betracht gezogen werden. Ist man aufgrund anderer Überlegungen oder den Aussagen den Kirchenväter zum Schluß geommen, dass ein Brief zum Beispiel von Paulus ist, dann muss er vor seinem Tod geschrieben worden sein. Und aufgrund der Beschreibung der Reisen des Paulus in der Apostelgeschichte ergibt sich daher für seine Briefe ein recht klares Bild.

Eine Frage stellt sich noch: Warum wurde das epochale Ereignis der Zerstörung Jerusalem und das Ende der Anbetung im Tempel gemäß dem mosaischen Gesetz mit keiner Silbe in den Schriften es Neuen Testaments als erfüllte Prophezeiung erwähnt? Oder vielleicht doch, aber nur indirekt? Als sich Jesu Prophezeiung in Bezug auf Jerusalem, die wir in den Evangelien finden, erfüllt hat, dann ist es doch für die Christen ein Triumpf und eine Bekräftigung ihres Glaubens gewesen, dass sich diese Prophezeiung erfüllt hat. Warum findet sich das überhaupt nicht in den Schriften? Das ist schon merkwürdig. Daher argumentieren manche ja, dass Jesus Prophezeiung in Wirklichkeit erst danach aufgeschrieben wurde. Und datieren die Texte nach 70 n.Chr. Aber ist das ein starkes Argument? Nun, die Christen, die flohen und überlebten, konnten das jedem berichten und hatten andere Sorgen, als dies aufzuschrieben. Wir hätten das zwar gerne von Augenzeugen aufgezeichent, aber das ist halt nur unsere heutige Sicht und unser Wunsch.

Nun könnte man argumentieren, dass dies ein gutes Argument sei, dass das Neue Testament vor 70 n. Chr. geschrieben wurde. Warum gibt es aber dann keine Schriften im Kanon des Neuen Testaments, welche nach 70 n. Chr. geschrieben wurden und die Erfüllung der Prophezeiung und die Konsequenzen für den christlichen Glauben hervorheben (Beschneidung, Speisegebote …)? Nun, zumindest das Evanglium nach Johannes, die drei Briefe und die Apokalypse werden von vielen an das Ende des ersten Jahrhunderts datiert. Aber darin wird das Ereignis nicht erwähnt. Nicht einmal die Prophezeiung Jesu, die sich nur in den synoptischen Evangelien findet (Mat 24, Mar 13, Luk 21). Diskutiert wurde in den Jahrhunderten danach über die Bedeutung des Ereignisses, zumahl die Mehrheit der Juden sich trotzdem nicht den Christen anschlossen. Aber das ist ein anderes Thema.

Da der Zeitpunkt der Niederschrift vieler Schriften im Kanon des Neuen Testaments sich kaum bestimmen lässt, kann man auch nur sehr grob den historischen Kontext definieren.

Wichtiger ist für dich aber vielleicht, wer die Verfasser der Schriften waren. Was wissen wir darüber? Das behandeln wir im nächsten Teil der Serie.

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