Weizenfeld mit Sonnenuntergang

Der Kanon des Neuen Testaments – Teil 14: Zwischenbilanz


Von Christian


In den letzten 13 Teilen dieser Serie über den Kanon des Neuen Testaments haben wir eine ganze Menge an Fakten kennengelernt. Historische Fakten über die Entwicklung des Kanons und des Christentums und solche über den Text und die Manuskripte selbst.

Vielleicht hast du dir schon im Laufe dieser Serie diese Fragen gestellt. Wenn nicht, tue ich es jetzt:

  • Und was soll ich damit anfangen?
  • Kann ich überhaupt noch daran glauben, dass ich in der Bibel Gottes Gedanken finde?
  • Warum kommen manche zu unterschiedlichen Schlüssen? Es sind doch für alle die selben Fakten. Gibt es keine objektive Antwort?

Damit sind wir wieder bei dem Gedanken, dass eine persönliche Bewertung hier entscheidend ist. Dabei geht es nicht um persönliche Vorlieben, wie die Lieblingsfarbe. Sondern eher um dasselbe wie bei der Frage: Ist dieses Bild schön? Man sagt ja nicht zu Unrecht: Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Die Frage, welche zunserem Thema passt, ist schwieriger: Ist dieses Bild gut?

Vincent van Gogh - Dr
Vincent van Gogh „Porträt des Dr. Gachet“

Kann die Frage „Ist diese Bild von van Gogh gut?“ einfach beantwortet werden? Mit ja oder nein? Schon an diesem Beispiel sehen wir, dass eine solche Frage nicht viel Sinn macht. Sollten denn alle Bilder der Welt in die zwei Gruppen ‚Gut‘ und ‚Schlecht‘ eingeteilt werden?

Genauso wenig macht die Frage Sinn, ob die Bibel wahr oder falsch ist.

Was die Frage betrifft, „Ist dieses Bild von van Gogh gut?“, magst du denken, dass es dafür doch objektive Kriterien gibt:

  • Ausführung (Farben, Details, Technik)
  • Ausdruck
  • Echtheit
  • Alter des Bildes
  • Künstler
  • Erhaltungszustand
  • usw.

Moment mal, warum ist das Alter eines Bildes ein objektives Kriterium ob es gut ist? Vergleichen wir einmal Jahrtausende alte Zeichnungen in einer Höhle mit einer ähnlich aussehenden Kreidezeichnung von Kindern auf der Straße. Da besteht doch ein gewaltiger Unterschied, oder nicht? Es geht dabei allerdings um eine leicht andere Frage: Was ist dieses Bild wert?

Und das ist auch die Frage, die uns in Bezug auf die Bibel wirklich interessiert: Welchen Wert hat die Bibel für uns?

Damit kommen aber auch allgemeine und persönliche Bewertungsfaktoren ins Spiel. Beim Bild zum Beispiel:

  • Für wie bedeutend hält man bzw. hältst du den Künstler?
  • Wie wichtig ist (für dich) der Erhaltungszustand? Kleine Beschädigungen, Alterung der Farben, usw.
  • Gefällt dir das Bild immer noch, auch wenn es nicht das Original sondern eine fast perfekte Kopie ist?

Du kannst dich aber natürlich auch auf den Standpunkt stellen, dass dieses Bild wertvoll sein muss, weil es 1990 für 82,5 Millionen US$ verkauft wurde … Das entspricht in etwa dem Gedanken, dass die Bibel für einen wertvoll ist, weil erstens Experten und zweitens Millionen anderer sie schätzen. Da es nun aber auch Experten und viele Millionen anderer es gibt, welche die Bibel überhaupt nicht schätzen, hilft uns das auch nicht unbedingt weiter.

Mit dem Kanon des Neuen Testaments sollten wir also besser selbst die objektiven Kriterien gut kennen. Das haben wir in dieser Serie gemacht. Und uns dann bewusst werden, wie wir diese subjektiv, persönlich bewerten. Das ist nämlich der Schlüssel zu der Beobachtung, dass bei gleicher Faktenlage Menschen zu ganz anderen Schlüssen kommen. Nehmen wir nur einmal zwei Personen, denen wir im Laufe dieser Serie begegnet sind: Die beiden Gelehrten Bruce M. Metzger und Bart. D. Ehrmann. Beide haben zum Kanon des Neuen Testaments gearbeitet, Ehrmann hat bei Metzger seine Doktorarbeit geschrieben. Während man in Metzgers Buch lesen kann, wie menschlicher und göttlicher Einfluß bei der Entstehung des Kanons zusammengewirkt haben, sieht sich Ehrmann heute nicht einmal mehr als Christ. Je mehr er die Unterschiede und Änderungen in den Manuskripten studiert hat, desto weniger war er von ihnen überzeugt.

Aber warum kann man bei gleicher Faktenlage zu ganz unterschiedlichen Schlüssen kommen?

Fakten und ihre Bewertung

Da hilft uns ein Beispiel aus einem anderen Bereich des Lebens. Du möchtest ein Haus kaufen. Der Notar sagt dir: Ich habe den Vertrag schon fertig gestellt, einfach hier unten unterschreiben. Würdest du das tun? Zumindest würdest du ihn in Ruhe durchlesen wollen. Dabei stellst du ein paar Dinge fest, die du nicht verstehst und mit dem Text scheint auch manchmal etwas nicht zu stimmen. Auf Nachfrage erfährst du: Der Verkäufer hat seinen Text in mehreren Teilen an seinen Rechtsanwalt geschickt. Genauer gesagt lagen sogar verschiedene Versionen vor. Bei der Übertragung zum Notar und der Abschrift dort sind dann leider noch ein paar Fehler aufgetreten. Aber der Notar hat das nach bestem Wissen korrigiert und auch sonst ein paar Dinge geändert, die so nicht richtig gewesen sein konnten. Nichts Wesentliches, nur ein paar Kleinigkeiten. Würdest du jetzt unterschreiben?

Bei einem Vertrag wird das wohl kaum einer tun. Aber wenn es um den eigenen Glauben, dein Leben und deine Zukunftshoffnung geht, machen viele das mit der Bibel: Pauschal unterschreiben. Und neigen sogar dazu, vor den Fakten, die wir bisher betrachtet haben, Angst zu haben, sie zu ignorieren oder sogar ganz zu leugnen. Warum eigentlich? Hier scheinen viele andere Faktoren eine größere Rolle zu spielen als eine rationale Bewertung der Fakten.

Um bei dem Vergleich zu bleiben: Wenn du den Notar schon lange persönlich, als kompetent und absolut vertrauenswürdig kennst und seine Kanzlei sehr zuverlässig arbeitet, dann wirst du doch keine Probleme damit haben, die erhaltenen Dokumente und deren Überarbeitungen zu überprüfen. Und dann hinkt dieser Vergleich: Einen Vetrag musst du ganz oder gar nicht unterschreiben. Und vielleicht ist das in Bezug auf die Bibel auch eine unbewusste Annahme von uns gewesen.

Es sind also oft die Annahmen, die wir zu einem Thema bewusst oder unbewusst haben, welche eine sehr wichtige Rolle bei der persönlichen Reaktion auf Fakten spielen. Fassen wir diese zunächst einmal zusammen.

Die Fakten

Was die Bibel, das Alte und Neue Testament betrifft, wollen wir also wissen, wie zuverlässig unsere Quellen für diesen oder jenen Text sind. Und da hat die Forschung, die historische und die Bibelkritik, wie wir gesehen haben, anstatt zu verunsichern, Gewissheiten gebracht:

Die Autographen sind zwar verloren, aber diese und die Kopien wurden ständig verlesen und gebraucht. Zusammen mit der mündlichen Überlieferung konnten die Christen zur Zeit der ersten Kopien diese noch vergleichen.
Natürlich bleibt eine bestimmte Ungewissheit, weil wir den Zustand der ersten Kopien nicht anhand von Mansukripten überprüfen können.

Es gibt etwa 5.800 griechiche Manuskripte und viele weitere Tausende in Latein und anderen Sprachen. Aus den ersten vier Jahrhunderte sind aber nur sehr wenige Manuskripte und davon nur sehr wenige vollständige erhalten geblieben. Es gibt schon früh Übersetzungen.

Es gibt wohl über 400.000 Abweichungen zwischen den Manuskripten des Neuen Testamants, das selbst nur 140.000 Wörter hat. Aber die meisten sind Schreibfehler und können so eleminiert werden.

Es gibt absichtliche Veränderungen: Aus guter Absicht, weil man Randnotizen für original hielt zum Beispiel. Aber es gab auch solche mit der Absicht, eine bestimmte Lehre zu verteidigen oder verhindern. Viele davon kennen wir mittlerweile. Andere werden noch im Text bisher unerkannt schlummern. Wir wissen also, dass es noch Überraschungen geben kann. Die Tatsache, dass ein Textvergleich überhaupt möglich ist, zeigt aber, dass es auch sehr große Übereinstimmungen gibt.

Der Kanon des Neuen Testaments festigte sich erst nach rund 300 Jahren nach einer Geschichte voller Irrungen und Wirrungen. Nichts spricht dagegen, dass Gott diesen Prozess beeinflußt hat, auch wenn die menschliche Hand nur zu gut zu sehen ist. Geblieben aber sind Schriften, die vor allem wegen der Qualität ihres Inhalts überzeugen, besondern im Vergleich zu denen, die nicht im Kanon sind.

Wenn Gott den Text inspiriert hat, dann so, indem er die ultimative Quelle ist. Das läßt oft Raum für Formulierungen durch den menschlichen Autor. Und entsprechend kann er auch die Arbeit derjenigen überwacht haben, welche die Texte überarbeitet, zusammengestellt und kopiert haben. Das geschah nicht fehlerfrei – was auch nie zugesagt wurde –, aber gut genug, um den Zweck zu erfüllen.

Betrachtet man die Evangelien, die Schriften des Paulus, die anderen Schriften im Kanon des Neuen Testaments, Schriften, die nicht in den Kanon aufgenommen wurden, die Schriften der Kirchenväter und Konzile in zeitlicher Reihenfolge, kann man erkennen, wie Lehren des Christentums über die Jahrhunderte erst entstanden oder entwickelt wurden.

Mit dem letzten Punkt haben wir uns in dieser Serie bisher noch nicht beschäftigt. Aber dies ist ja auch erst eine ‚Zwischenbilanz‘.

Betrachten wir zuerst einmal einige individuelle Bewertungen der aufgeführten Fakten.

Individuelle Bewertungen

Lass uns einmal ein paar individuelle Bewertungen betrachten und uns dabei fragen, inwieweit sie das Ergebniss von Fakten, Annahmen und persönlichen Bewertungen sind.

Bewertung 1

„Das stimmt alles nicht. Das wurde nur erfunden, um die Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift in Misskredit zu bringen. Für mich ist und bleibt das alles Gottes Wort.”

Gut. Kann man so machen. Das Leugnen von Fakten ist aber auch sonst im Leben keine besonders gute Strategie. Könnte es sein, dass es hier mehr darum geht, dass bestimmte Annahmen und Behauptungen zur Inspiration und Unfehlbarkeit der Bibel ausschlaggebend sind? Oder weil sonst gewisse Glaubenslehren ins Wanken kommen könnten?

Bewertung 2

In Titus 1:2 steht: „Gott, der nicht lügen kann”. Wenn Gott nicht lügen kann, kann in der Bibel auch nichts Falsches stehen.

Diese Überlegung beinhaltet einige inkorrekte Schlussfolgerungen, führt aber vielleicht dazu, dieses Thema in Zukunft zu ignorieren. Das führt uns auch nicht zu einem stabilen Fundament des Glaubens.

Bewertung 3

„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann, die Wahrheit spricht“.

Wenn jemand so denkt und dann erfährt, dass Texte in der Bibel gefälscht wurden, kann das dazu führen, dass die Bibel als Ganzes abgelehnt wird. Setzt aber voraus, dass man davon ausgehen darf, dass die Bibel fehlerfrei erhalten sein muss.

Bewertung 4

Eine ‚heilige Schrift‘ darf keine Fehler oder menschlichen Einfluß enthalten.

Das kann man so glauben und als Grundannahme haben. Es ist aber kein Naturgesetz, sondern ein Glaubensdogma. Es ist aber leider zu unscharf formuliert und führt zu Schwierigkeiten, wenn man darüber nachdenkt.

Nehmen wir die Tafeln mit den 10 Geboten (eigentlich Wörtern … anderes Thema). Nehmen wir an, du bekommst sie von Gott in die Hand gedrückt. Wenn dort steht „du sollst nicht morden“ und später „du sollst morden“, dann könnte man schon an der Göttlichkeit dieses Textes zweifeln. Wäre aber an der Tafel eine Ecke abgebrochen und ein Teil der Wörter schlecht lesbar, würdest du es Gott zurückgeben, weil du das so nicht als göttlich akzeptieren kannst? Wenn du jedoch einhundert Jahre später die Tafeln bekommst, die aber leider zerbrochen sind. Und manche Wörter sind beschädigt und zwei Sätze sind nur halb erhalten und an einer Stelle ist etwas repariert worden … dann bist du in der Situation über die wir in dieser Serie gesprochen haben. Und dann erfährst du noch, dass das gar nicht das Orinigal ist! Sondern Mose musste nochmal .. weil er das Original zertrümmert hat …

Übrigens enthält die Bibel oft genug Passagen, in denen ausgedrückt wird, wie derjenige fühlte und dachte, der es schrieb. Ist das nicht schon ein menschlicher Einfluß? Gott hat dem Psalmisten ja nicht seine Niedergeschlagenheit so inspiriert, dass er es für die heilige Schrift passend als göttliche Gedanken aufschreiben konnte.

Enthält die Bibel logische Widersprüche oder widersprüchliche Aussagen? Darüber haben wir überhaupt noch nicht gesprochen. Und auch die Bewertung des Inhalts kann auch zu ganz unterschiedlichen Schlüssen führen.

Bewertung 5

„Es wäre ja schön gewesen, wenn wir perfekte Kopien hätten oder sogar die Autographen mit Echtheitsgarantie. Aber so ist es nun einmal nicht. Sehen wir, was wir am Besten daraus machen können. Beim Text der Bibel berücksichtige ich, wie gesichert der Text aufgrund der Manuskripte ist.“

Ein Gedanke oder eine Lehre, die auf vielen Texten beruht, ist zuverlässiger als etwas, was nur in einem Text vorkommt. Falls in diesem Fall sich die Manuskripte auch noch unterscheiden oder es Unterschiede zum Kontext und den anderen Texten gibt, ist die Zuverlässigkeit eher gering. Mit diesem Umstand kann man leben und ihn berücksichtigen.

Ungewissheiten und Risiken

Die persönliche Gewichtung von Fakten führt also zu ganz verschiedenen Ergebnissen. Bei gleicher Faktenlage.

Es geht aber nicht nur um die Bewertung von Fakten, die wir kennen, sondern auch um Ungewissheiten und damit Risiken. Es gibt eine Lücke zwischen den frühesten uns erhaltenen Kopien und den Autographen. Auch hier kann man unterschiedlich bewerten.

  • „Da ich über diese Zeit nichts weiß, gehe ich davon aus, dass dort alles Mögliche passiert sein kann und das Neue Testament völlig zerstört wurde. Ich traue der Sache gar nicht.”
  • „Ich kann zwar nicht direkt überprüfen, was in der Zeit zwischen den Autographen und den frühesten uns erhaltenen Kopien passiert ist. Aber indirekt kann man gewisse Aussagen machen. Von einigen Autographen haben wir erfahren, dass sie noch viele Jahrzehnte zum Vorlesen verwendet wurden. Grobe Fehler in einer Kopie wären also aufgefallen. Die Textkritik hat die Unterschiede aufgezeigt. Aber damit auch die Gleichteile. Viele Veränderungen sind korrigiert. Bei anderen unklaren Unterschieden bewerte ich die Passage als nicht sehr zuverlässig. Es gibt ein Restrisiko, dass weitere verfälschte Texte gefunden werden. Aber dass ein neu gefundenes Manuskript alles auf den Kopf stellt, halte ich für unwahrscheinlich. All das berücksichtige ich, wenn ich in der Bibel lese.”

Vielleicht wartest du immer noch darauf – oder hoffst darauf – dass ich hier eine abschließende, allgemeingültige Aussagbe treffe, was du von dem Kanon des Neuen Testaments halten sollst. Nun, ich hoffe, es ist klar geworden, dass es die nicht geben kann. Damit würde ich dir eigentlich auch die Verantwortung, die jeder selbst hat, abnehmen. Und so beende ich diese ‚Zwischenbilanz’ in der Hoffnung, dass du nun genügend Material hast, um deine persönliche Bewertung und Position finden zu können.


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