Weizenfeld mit Sonnenuntergang

Der Kanon des Neuen Testaments – Teil 13: Marcion und andere verschwundene Christen


Von Christian


Rom, Ende Juli 144 n. Chr. „Der Klerus der christlichen Gemeinde zu Rom hält eine Anhörung ab. Ein sehr angesehenes Gemeindemitglied namens Marcion steht vor den Presbyterien, um ihnen seine Lehre des Evangeliums zu darzulegen, mit dem Ziel, die Ältesten zu überzeugen.

Aber das, was er jetzt den Presbytern vortrug, was so ungeheuerlich, daß es seinen Zuhörern die Sprache verschlug. Die Veranstaltung endet mit einer schroffen Ablehnung der Ansichten Marcions. Er wurde förmlich exkommuniziert.“ (Bruce M. Metzger, Der Kanon des Neuen Testaments, S. 96)

Jehovas Zeugen denken dabei vielleicht an ihre Rechtskomittees, den Gemeinschaftsentzug und das Meiden und Ausgrenzen so eines Abtrünnigen. Es gibt da aber viele Unterschiede. Vor allem einer: „Er war schon einige Jahre Mitglied einer der römischen Kirchen und hatte seine Rechtgläubigkeit durch umfangreiche finanzielle Zuwendungen unter Beweis gestellt. Zweifellos war er ein angesehenes Gemeindemitglied. … Doch dann wurde er förmlich exkommuniziert und seine Geldzuwendungen wurden ihm zurück erstattet.“ (Metzger, S. 96) Das hat wohl noch niemand bei den Zeugen Jehovas erlebt. Wir hätten uns gewiss bei unserem amtlichen Austritt aus der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas über eine Rückerstattung unserer Spenden gefreut. Aber das ist ein anders Thema …

Die Lehre des Marcion

Welche Lehre hat denn Marcion vorgetragen, die eine solche Reaktion auslöste? Marcion schrieb nur ein einziges Werk, die Antithesen. Es ist uns nicht erhalten geblieben, was bei einem für die Kirche so gefährlichen Buch nur zu verständlich ist. Wir wissen aber, dass diese Gedanken lange Zeit eine der stärksten Strömungen im Christentum waren und auf heftigste bekämpft wurden. Tertullian schrieb »Fünf Bücher gegen Marcion«. Und das war schon sein zweites, ausführlicheres Werk! Irgendetwas scheint also doch an der Lehre Marcions dran gewesen zu sein, wenn so ein Aufwand notwendig war, um zu beweisen, dass sie häretisch war – oder sollten wir vielleicht besser sagen: Nicht orthodox.

Wenn also schon die Entgegnungen so umfangreich sind, kann man die Lehre auch nicht in wenigen Sätzen angemessen erklären. Wer mehr wissen möchte, der sei auf das monumentale Werk (640 Seiten) des Gelehrten Adolf von Harnack verwiesen: Marcion, das Evangelium vom fremden Gott

Nachdruck von Marcion, das Evangelium vom fremden Gott, Adolf von Harnack, 1921

Oder aus neuerer Zeit Barbara Aland Was ist Gnosis? Mohr Siebeck, Tübingen 2009. Da wir hier aber primär nicht sein Lehre selbst analysieren wollen, sondern welche Auswirkungen er auf den Kanon des Neuen Testaments hatte, fangen wir mit ein paar Aussagen von Paulus an.

Es schreibt Paulus, ein Apostel, der nicht von Menschen gesandt oder durch einen Menschen zum Apostel gemacht wurde, sondern durch Jesus Christus selbst und durch Gott, den Vater, der Jesus aus den Toten auferweckt hat.

Aber Gott hatte mich schon im Mutterleib ausgewählt und in seiner Gnade berufen.

Es muss euch klar sein, meine Brüder: Das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, ist kein Menschenwort. Ich habe es nicht von Menschen empfangen oder gelernt, sondern ich erhielt es durch Offenbarung von Jesus Christus.

… habe ich nicht erst Menschen um Rat gefragt. Ich reiste nicht einmal zu denen nach Jerusalem, die schon vor mir Apostel waren, sondern ging nach Arabien und kehrte dann wieder nach Damaskus zurück.

Von Seiten der Angesehenen aber, von denen, die etwas zu sein scheinen – was sie einst waren, spielt für mich keine Rolle, bei Gott gibt es kein Ansehen der Person … Mir jedenfalls haben die Angesehenen nichts auferlegt [wörtlich mir nichts Neues gegeben], im Gegenteil: Als sie sahen, dass mir das Evangelium für die Unbeschnittenen anvertraut ist so wie dem Petrus dasjenige für die Beschnittenen – der nämlich, der an Petrus gewirkt hat, um ihn zum Apostel der Beschnittenen zu machen, hat auch an mir gewirkt, um mich zu den Heiden zu senden -, und als sie die Gnade erkannten, die mir geschenkt war, da gaben Jakobus und Kefas und Johannes, die Angesehenen, die als ‘Säulen’ gelten, mir und Barnabas die rechte Hand zum Zeichen ihres Einverständnisses: Wir sollten zu den Heiden, sie aber zu den Beschnittenen gehen

Als dann aber Kephas nach Antiochia kam, musste ich ihn öffentlich zur Rede stellen, weil er durch sein Verhalten im Unrecht war.

Aber was für einen Sinn hat dann das Gesetz? Es wurde hinzugefügt, um die Gesetzesübertretungen sichtbar zu machen, und zwar so lange, bis der Nachkomme käme, dem das Versprechen galt.

Wenn ihr durch das Gesetz vor Gott bestehen wollt, habt ihr euch von Christus getrennt und die Gnade verloren.

So wie eine einzige Verfehlung allen Menschen die Verdammnis brachte, so bringt eine einzige Tat, die Gottes Rechtsforderung erfüllte, allen Menschen den Freispruch und damit das Leben.

Galater 1:1,15,11,12,16,17 Neue Evangelistische Übersetzung; Galater 2:6-9 Züricher; Galater 2:11; 3:19; 5:4 NEÜ; Römer 5:18 NEÜ

Welche Überzeugung vermittelt hier Paulus von sich und dem Evangelium?

  • Paulus wurde direkt von Jesus Christus selbst und Gott, dem Vater zum Apostel.
    Die anderen Apostel wurde von Jesus ausgewählt.
  • Er wurde sogar schon im Mutterleib von Gott ausgewählt.
    Das kann kein einziger der anderen Apostel von sich sagen und sagte es auch nie.
  • Er erhielt das Evangelium durch Offenbarung von Jesus Christus.
    Als Quelle erwähnt er keine Evangelien oder Berichte der anderen Apostel.
  • Im Gegenteil: Es hielt es nicht für nötig, die vor ihm ernannten Apostel in Jerusalem zu Rate zu ziehen, als wäre es nur Rat von Menschen.
  • Die Angesehenen, deren Ansehen er für unwichtig hält, die Apostel und Ältesten, die ‚Säulen‘ der Gemeinde in Jerusalem, hatten für ihn nichts Neues.
  • Ihm wurde das Evangelium für die Heiden anvertraut. Damit waren sie einverstanden.
  • Paulus musste sogar Petrus öffentlich zur Rede stellen.
  • Das Gesetz ist dazu da, die Sünde und Übertretung sichtbar zu machen. Der Gegensatz dazu ist die Gnade durch Christus. Zumindest kann man das so interpretieren.
  • Leben kommt nur durch den Opfertod Jesu.

Vergleichen wir das einmal mit wesentlichen Elementen der Gedanken und Lehren Marcions, soweit sie sich aus den Schriften seiner Gegner rekonstruieren lassen (ich vereinfache hier, aber sonst wird es ein sehr langer Text bzw. Video):

  • Paulus ist der einzig wahre Apostel, denn nur er hat das Evanglium wirklich verstanden.
  • Die anderen Apostel sind in das alten jüdische Denken zurückgefallen oder haben das wahre Evangelium nie ganz verstanden.
  • Das Alte Testament mit dem Gesetz und seinem gerechten, strafenden Gott steht ihm Gegensatz zu dem liebevollen Gott und Jesus Christus und deren Erlösung durch Gnade.
  • Das Alte Testemant ist für die Gläubigen daher nicht mehr wichtig, sondern nur das Evanglium.

Die Bedeutung des Paulus als Apostel und des Evangeliums, wie er es predigte, wird nicht nur hervorgehoben sondern konsequent weiterentwickelt – zum Teil sogar radikal weiter entwickelt. Interessant ist doch aber, dass viele Christen heute ziemlich genau so denken, nicht wahr? „Du musst nur an Jesus glauben, und dann bist du gerettet.“, „Jesus liebt dich.“, „Die Liebe ist das Wichtigste.“ „Das Alte Testament ist für uns heute nicht so wichtig.“ Obwohl die Kirche Marcion und seine Bewegung erbittert bekämpft hat, scheinen mir heute wieder ziemlich viele so eine Art Marcionisten zu sein.

Einen zentralen Punkt in Marcions Theologie habe ich aber noch nicht erwähnt. Hier entwickelt er die Paulinischen Gedanken bis zur letzten Konsequenz weiter. Wenn so ein Unterschied zwischen mosaischem Gesetz und der Liebe des Christus besteht, wenn der Gott des Alten Testaments gerecht aber auch grausam ist, im Evangelium aber als Gott der Liebe beschrieben wird, der ganz Liebe ist, dann kann JHWH aus der jüdischen Bibel und der Gott es Evangeliums nicht der Selbe sein! Es muss ein uns bisher unbekannter Gott sein! Den Gott des Alten Testaments, der jüdischen Bibel, den Schöpfergott dieser sündigen, ungerechten Welt nannte er den Demiurg, von altgriechisch δημιουργεῖν ‚schaffen‘. Er, der in der jüdischen Bibel sich selbst als JHWH bezeichnet, ist der niedrigere Gott des Gesetzes, der strafende. Ein Gesetz, das nur dazu da war, die Fehlerhaftigkeit und Sünde der Menschen und der Schöpfung aufzuzeigen. Den höchsten Gott kannten wir daher bisher gar nicht. Er ist ein Gott voller Liebe und Güte und er hat Jesus als seinen Gesandten geschickt. Er ist der Erlösergott, der weit über dem bösen Schöpfergott des Gesetzes steht. Der Schöpfergott verurteilt uns zum Tod, der Erlösergott schenkt uns das Leben.

Die Trennung in zwei Gottheiten mag uns vielleicht nicht behagen. Aber unterscheiden nicht viele Menschen so den Gott des AT und des NT? Selbst heute sehen also viele hier einen Gegensatz und lösen diesen auf erstaunlich ähnliche Art und Weise. Und tatsächlich ist damals so manches theologische Konzept Marcion doch in die Lehren der Kirche später aufgenommen worden. Vergesssen wir auch nicht, dass nach seiner Exkommunikation sich viele Gemeinden seiner Lehre anschlossen und zu einer der wichtigsten Strömungen der Christenheit wurde.

Bedenkt man, dass die Streitigkeiten zum Thema GESETZ schon zur Zeit des Paulus aktuell waren und das Verhältnis der Jünger Jesu zum Judentum sich stetig weiter entwickelte, wäre er vielleicht damit noch ein Zeit lang mit durchgekommen (ich spekuliere jetzt). Aber eine Sache war für ihn logische Konsequenz, die sicher mit ausschlaggebend war: Der Gesandte des Erlösergottes, war durch und durch gut und voller Liebe und konnte deswegen nur göttlich sein. Er konnte nichts menschliches an sich haben, denn die Menschen sind Teil der Schöpfung und damit das unvollkommene Werk des Demiurgen. Menschen können sich nicht von selbst aus dem Bösen und dem Gesetz befreien. Daher erschien es nur so, als ob der Gottessohn ein Mensch geworden wäre. Er war auch nicht der im AT vorhergesagte Messias. Das war natürlich die schreckliche Häresie des Doketismus, die von der Kirche ebenso vehement bekämpft wurde. Das wurde ja schon zwischen erstem und zweiten Jahrhundert festgehalten:

Ich schreibe euch das, weil viele Verführer in der Welt unterwegs sind. Sie behaupten, dass Jesus Christus nicht als Mensch von Fleisch und Blut zu uns gekommen ist. Dahinter steckt der eigentliche Verführer und Antichrist.

2. Johannes 1:7 Neue Evangelistische Übersetzung

Das Problem mit der Natur Jesu Christi hat, wie wir schon gesehen haben, viele beschäftigt und nur eine von mehreren Strömungen hat überlebt. Marcions Wirken hatte aber einen weiteren interessanten Einfluß.

Wie hat Marcion die Entwicklung des Kanon beeinflußt?

Marcion war der Überzeugung, dass nur Paulus das wirkliche Evangelium direkt von Gott und Christus empfangen hätte und die anderen Apostel es nicht verstanden und sogar mit Gedanken aus der jüdischen Bibel vermischt hätten. Wenn man Paulus so im Galater und anderen Briefen hört, klingt das gar nicht so anders. Tatsächlich waren die Briefe des Paulus und seine Theologie in Teilen der Kirche aber gar nicht mehr so bestimmend wie noch Mitte des ersten Jahrhunderts. Marcion wollte daher das wahre Evangelium wiederherstellen. Auch zu seiner Zeit gab es schon verschiedene Evangelien, mit unterschiedlichen Darstellungen, und verschiedene Kopien und Überlieferungen – ganz zu schweigen von den Apokryphen. Er wählte daher das Lukas Evanglium als das einzig wahre aus und bereinigte es von ‚Fehlern‘. Wir hatten in dieser Serie auch viele Beispiele gesehen, in denen Abschreiber mit voller Absicht den Text änderten, um eine bestimmte Lehre zu untermauern oder verhindern. Marcion hatte den Eindruck, dass selbst Schriften des Paulus auf diese Weise ‚verdorben‘ waren und stellte eine Sammlung von korrigierten Schriften auf. Daher sind wichtige Gelehrte der Meinung, dass Marcion damit der erste war, der einen Kanon der christlichen Schriften erstellte! Ausgerechnet dieser Häretiker! Tatsächlich hat seine Arbeit aber auf jeden Fall dazu beigetragen, die Entwicklung des Kanons des Neuen Testaments, so wie wir es kennen, zu beschleunigen.

Zusammenfassend möchte ich daher aus Adolf von Harnacks Werk zitieren (S. 262ff, Deutsch von 1921). Hinweis: Soteriologie ist die Lehre der Erlösung des Menschen im christlichen Kontext.

Nicht nur durch die Tatsache, dass alle diese Stücke bei Marcion früher auftauchen als in der großen Kirche, wird die causierende Priorität dieses einzigen Mannes bewiesen, sondern noch sicherer durch die Beobachtungen (s. Beilage III und IV), wie stark die Marcionitische Bibel als solche und auch durch ihren Text auf die katholische eingewirkt hat. Vor allem spricht hier das mächtige Eindringen der Marcionitischen Prologe zu den Paulusbriefen in die lateinische Bibel der Kirche die beredteste Sprache. Wie oft muss anfangs die Marcionitische Briefsammlung in die Hände der Katholiken gekommen und zunächst unerkannt geblieben sein! Es fehlten eben Jahrzehnte lang in den katholischen Kirchen Exemplare der Paulusbriefe. Aber auch die offenbare Tatsache, dass Irenäus, der Begründer der soteriologischen Kirchenlehre, sowie Tertullian und Origenes ihre biblischen Lehren über Güte und Gerechtigkeit, über Evangelium und Gesetz, über den Schöpfergott und den Erlösergott usw. im Kampf gegen Marcion entwickelt und dabei vom ihm gelernt haben, ist von höchstem Belang. Endlich – durch Marcion ist auch für die große Kirche Paulus wiedererweckt worden, den z.B. ein Lehrer wie Justin bereits ganz zur Seite geschoben und der römische Christ Hermas völlig ignoriert hatte. Vor allem aber die Stellung der großen Christenheit zum AT ist infolge der Auseinandersetzung mit Marcion eine wesentlich andere geworden als früher. Vorher war die Gefahr brennend, dass man das AT als die christliche Urkunde, teils wörtlich, teils allegorisch erklärt, anerkannte und sich mit ihr begnügte; jetzt wurde zwar diese Gefahr noch immer nicht endgültig beseitigt und eine befriedigende Klarheit nicht hergestellt, aber die Beurteilung, dass im AT „das Erz noch in den Gruben liegt“ und dass es die legisdatio in servitutem sei gegenüber der neutestamentlichen legisdatio in libertatem, schaffte sich doch Raum und Ansehen. Ja wir hören jetzt von hervorragenden Kirchenlehrern Äußerungen über das AT, die noch über Paulus hinausgehen. Das verdankt die Kirche Marcion.

Nimmt man hinzu, dass erst nach Marcion in der großen Christenheit die zielstrebige Arbeit begonnen hat, die heilige Kirche, die Braut Christi, die geistige Eva, den jenseitigen Äon vom Himmel herbeizuführen und auf Erden die Gemeinden zu einer tatsächlichen Gemeinschaft und Einheit auf dem Grunde einer festen, im NT wurzelnden Lehre zusammenzuschließen, wie er es getan hat, so ist erwiesen, dass Marcion durch seine organisatorischen und theologischen Conceptionen und durch sein Wirken den entscheidenden Anstoß zur Schöpfung der altkatholischen Kirche gegeben und das Vorbild geliefert hat. Ihm gebührt ferner das Verdienst, die Idee einer kanonischen Sammlung christlicher Schriften, des Neuen Testaments, zuerst erfasst und zuerst verwirklicht zu haben. Endlich hat er als erster in der Kirche nach Paulus die Soteriologie zum Mittelpunkt der Lehre gemacht, während die kirchlichen Apologeten neben ihm die christliche Lehre auf die Kosmologie gründeten.

Adolf von Harnack: Marcion, das Evangelium vom fremden Gott, S. 245ff
Adolf von Harnack: Marcion, das Evangelium vom fremden Gott, S. 245
Adolf von Harnack: Marcion, das Evangelium vom fremden Gott, S. 246
Adolf von Harnack verwiesen: Marcion, das Evangelium vom fremden Gott, S. 247

Welche Strömungen gab es unter Christi Jüngern?

Nachdem wir erkannt haben, dass sogar eine christliche Strömung, die nicht überlebt hat, einen Einfluß auf die Schriften und den Kanon hatte, stellt sich die Frage, ob es noch andere solche gab.

Zuerst einmal lebten Jesus und die Jünger im Judentum in der Zeit des zweiten Tempels. Damals gab es die Strömungen der Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Zeloten und anderer. Die Jünger kamen aus oder standen diesen Gruppen nahe, vermutlich bis auf die Sadduzäer, der priesterlich-aristokratischen Oberschicht. Paulus war ein Pharisäer gewesen, und Simon der Eiferer war vielleicht ein Zelot gewesen. Aber auch der Einfluß der Essener, welche den Messias erwarteten, sollte nicht ignoriert werden. Interessant ist, dass von diesen nach der Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. im wesentlichen nur die Phärisäer überlebten.

Dann kamen auch die ‚Heiden‘, also Menschen, die keine Juden waren, dazu. Das waren zum Teil auch ‚Gottesfürchtige‘, also Heiden die schon mit dem Judentum sympathisierten. Die Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 n. Chr. war natürlich ein einschneidendes Ereignis. Im wesentlichen kann man die Strömungen bei den Christen in drei Richtungen einteilen:

  • Judenchristen
    • Nazarener (Wikipedia, Nazarener)
      Sie hielten das Halten des Gesetzes weiter für wichtig und sahen in Jesus einen Propheten. Anders als die Ebioniten akzeptierten sie aber die Jungfrauengeburt. In der patronistischen Zeit und den Kirchenvätern waren sie bekannt und ihr Standpunkt wurde diskutiert
    • Ebioniten (Wikipedia, Ebioniten)
      Ob sie sich selbst diese Bezeichnung, ‚die Armen‘, gaben, ist unbekannt. Aber sie versuchten wie Jesu erste Jünger, alles aufzugeben. Für sie musste man, um ein Jünger Jesus zu sein, auf jeden Fall ein Jude sein. Für sie lebte Christus nicht, bevor er auf der Erde lebte. Er war nur ein Mensch, den Gott wegen seiner Gerechtigkeit adoptierte und eine besondere Stellung gab. Sie lehnten auch die Theologie des Paulus ab.
      Daher waren sie für die vor-orthodoxen Christen Häretiker, die es zu bekämpfen galt. Deswegen wurde insbesondere die Position bekämpft, dass Jesus nur ein Mensch war. Und wie wir gesehen haben, hat man deswegen auch den Text der Schriften manchmal geändert.
  • Paulinische Christen
    Christen, deren Theolgie auf den Schriften und Lehren des Paulus aufbauten.
  • Gnostische Christen
    Das war keine einheitliche Gruppe, sondern es gab viele unterschiedliche Richtigungen.
    Für sie war die materielle Welt von Grund auf schlecht und alles, was zählte, war eine geistige Welt. Nun, von dieser Vorstellung scheint ja einiges übrig geblieben zu sein.
    Die gnostischen Gruppen dachten, dass sie die ‚Gnosis‘, ‚Erkenntnis‘, diese geheime Kenntnis der spirituellen Welt besitzen und dies der Schlüssel für die Erlösung ist.

Zwischen 180 und 313 n. Chr. setzte sich die ‚große Kirche‘ durch, welche die Theologie des Paulus weiter entwickelte und allen anderen in ihren Schriften widersprach. Dadurch gingen deren Standpunkte – bzw. gegenteiligen Argumente – in die Texte und Lehren der Kirche ein. In gewisser Weise formte sich ein Glaubensbekenntnis, welche sich gegen all diese anderen Vorstellungen verteidigte.

313 n. Chr. ist ein wichtiges Datum, weil dort im Edikt von Mailand den Christen im ganzen römischen Reich ein gesetzlicher Status zuerkannt wurde. 325 u.Z. konvertierte dann Kaiser Konstantin und das erste Konzil von Nicäa fand statt. Dort sollte ein einheitliches Glaubensbekenntnis erstellt werden, was dann schließlich das Bekenntnis von Nicäa war.

Die dort behauptete Wesensgleichheit von Gott-Vater und Gott-Sohn wurde aber von vielen abgelehnt. Arius und seine Anhänger wurde Arianer genannt (Wikipedia). Die Auseinandersetzung mit dieser Gruppe prägte nicht nur das Glaubensbekenntnis, sondern auch die Auswahl von Schriften für den Kanon sowie manchmal den Text selbst: Denken wir nur an das Comma Johanneum zurück oder die anderen geänderten Texte. Als die führende Strömung, welche hinter dem Bekenntnis von Nicäa stand, dann 380 n. Chr. durch Kaiser Theodosius Staatsreligion wurde, setzte diese sich endgültig durch.

Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass die Auswahl der Schriften, die Entwicklung des Kanon und die Schriften selbst nicht geradlinig gemäß einem Plan schrittweise umgesetzt wurde, sondern über Jahrhunderte entstand. Und dass der Einfluß der anderen Strömungen im Christentum, welche verschwunden sind, nicht übersehen werden sollte.


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