Liest ein Zeuge Jehovas in der Neue-Welt-Übersetzung Offenbarung 1:10, wird er ganz selbstverständlich eine bestimmte Auslegung im Sinn haben:

„Durch Inspiration* befand ich mich dann am Tag des Herrn,*“ (NWÜ)
* „Durch Inspiration“. Od.: „Im Geist“. Gr.: en pneumati;lat.: in spịritu.
* Od.: „Ich befand mich dann unter Inspiration am Tag des Herrn“.

„Durch Inspiration befand ich mich dann am Tag des Herrn“ (NWÜ 2018)

Welcher Zeuge Jehovas würde nun nicht denken, dass es sich hier um die unsichtbare Gegenwarte Jesu in unserer Zeit handelt? Schließlich wurde das seit Jahrzehnten so gelehrt:

„Die Visionen der Offenbarung beziehen sich auf den „Tag des Herrn“; er begann, als Gottes Königreich 1914 mit Jesus Christus als König zu regieren anfing (Offenbarung 1:10). Das meiste aus der Offenbarung wird sich also in unserer Zeit erfüllen.“ (ijwbq Antworten auf Fragen zu Bibel Artikel 72)

Natürlich wird in Offenbarung 1:10 keine Verbindung zu 1914, der Regierung Jesu und der unsichtbaren Gegenwart hergestellt. Das wurde zum Beispiel im Wachtturm 1991 15.4. S.26 im Artikel Der „Tag des Herrn“ versucht. 

Aber ist das denn nicht klar? Schauen wir uns einmal andere Übersetzungen an:

„Am Tag des Herrn wurde ich vom Geist ergriffen und hörte in meinem Rücken eine mächtige Stimme wie von einer Posaune“ (Züricher)

„An einem ‹Sonntag,[5] dem› Tag des Herrn, wurde ich vom Geist Gottes ergriffen: Ich hörte hinter mir eine laute Stimme, die wie eine Fanfare klang“ (Neue Evangelistische Übersetzung) [5] Hinzufügung, weil von frühester nachapostolischer Zeit an der erste Tag der Woche als Tag des Herrn bezeichnet wurde. Vergleiche auch Johannes 20,19; Apostelgeschichte 20,7; 1. Korinther 16,2.

Die Fußnoten der Neue-Welt-Übersetzung 1986 erklärten schon, dass die Übersetzung ‚Durch Inspiration‘ eigentlich ‚Im Geist‘ bedeuten.  Und woher kommt die Formlierung „befand ich mich dann“, was ja auf die Anwesenheit in einer später Zeit hinweist? Nicht aus dem Text, wie die Interlinear Übersetzung zeigt:

Das konnte man sogar aus der Interlinear-Ausgabe der Zeugen Jehovas erkennen, wenn auch die englische Übersetzung der Wörter schon etwas verwirrender ist.

Interessant ist, dass im oben genannten Wachtturm von 1991 argumentiert wird, dass sich schon aus dem Kontext von Offenbarung 1:10 ergibt, dass es am Tag der unsichtbaren Gegenwart Jesu stattfinden muss. Doch schon im oben zitierten Artikel ijwbq Antworten auf Fragen zu Bibel Artikel 72 steht ja: „Das meiste aus der Offenbarung wird sich also in unserer Zeit erfüllen.“

Was sagt denn der direkte Kontext wirklich? Der Satz ist in Offenbarung 1:10 noch nicht zu Ende!

„An einem ‹Sonntag,[5] dem› Tag des Herrn, wurde ich vom Geist Gottes ergriffen: Ich hörte hinter mir eine laute Stimme, die wie eine Fanfare klang und mir befahl: “Schreibe das, was du siehst, in ein Buch und schicke es an die sieben Gemeinden in Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea.““ (Neue Evangelistische Übersetzung)

Ich finde es immer wieder interessant, wie argumentiert wird, dass sich Offenbarung 1:10 auf eine viel spätere Zeit beziehen muss, wegen dem was in der Offenbarung steht. Doch die nächsten Kapitel beziehen sich doch definitiv auf existierende Versammlungen zur Zeit des Johannes!

Immer noch nicht überzeugt? Dann lesen wir einmal die 2001 Translation, welche auch die alten aramäischen Texte berücksichtigt:

„Now, on the Sabbath day,^[Syr] I came to be in The Breath [of God]… For I heard a voice from behind me, and it was as loud as a trumpet!“

„Nun, am Sabbattag^[Syr], kam ich in Den Atem [Gottes]… Denn ich hörte eine Stimme hinter mir, und sie war so laut wie eine Trompete!“